# taz.de -- Russlanddeutsche in Berlin: Die Lieblingsmigranten der AfD | |
> In Marzahn verteilt die AfD ihre Wahlwerbung auf Russisch. Das | |
> konservative Weltbild und die Flüchtlingspolitik der Rechtspopulisten | |
> kommen hier gut an. | |
Bild: Klöppeln und AfD wählen: Russlanddeutsche bei einer Handarbeitsgruppe i… | |
„Ich gehe nicht wählen“, winkt die Frau mit der Einkaufstasche ab. „Die | |
Parteien sind doch alle gleich. Ihnen geht es nur ums Geld“, schimpft sie. | |
Die Mittvierzigerin spricht mit russischem Akzent. Sie kommt gerade aus dem | |
Mix-Markt in Marzahn, einem russischen Supermarkt. | |
Zwischen 150.000 und 200.000 Russlanddeutsche leben in Berlin. Der Norden | |
und die Mitte Marzahns, dort, wo der Mix-Markt Kwas, Pelmeni und russisches | |
Konfekt verkauft, wohnen besonders viele. | |
Einst waren viele der Russlanddeutschen der CDU angetan, aus Dankbarkeit | |
darüber, dass ihr Exkanzler Helmut Kohl sie ins Land holte. Die Zeit | |
scheint vorbei zu sein. Zumindest vor dem Mix-Markt. „Ich wähle nicht“ – | |
„Ich spreche nicht mit der deutschen Presse“ oder „Ich habe keine Zeit“ | |
sind die Antworten, die die taz hier von Russlanddeutschen auf die Frage | |
nach ihrem Wahlverhalten erhält. | |
## AfD-Flyer auf Russisch | |
Sergej Henke teilt den Befund. Der CDU-Politiker ist selbst | |
Russlanddeutscher und bewirbt sich zum zweiten Mal für die CDU in Marzahn | |
um ein aussichtsloses Direktmandat. „Die Wahlbeteiligung unter | |
Spätaussiedlern ist sicher geringer als unter anderen Wählern“, sagt er. | |
Und er hat die Erfahrung gemacht, dass viele, die vor Jahren noch die CDU | |
wählten, heute ihr Kreuz bei der AfD oder einer rechten Splitterpartei | |
machen wollen oder auch nicht wählen gehen. „Viele Russlanddeutsche haben | |
das Gefühl, die Politik kümmere sich zu wenig um sie.“ | |
Eine Frau vor dem Mix-Markt will doch sprechen. Janna M., 25 Jahre alt, | |
trägt ihre blonden Haare streng zusammengebunden. „Ich gehe zum ersten Mal | |
in meinem Leben wählen. Ich wähle die AfD“, sagt die Mutter von zwei | |
kleinen Kindern. Gerade erwartet sie das dritte Kind. Janna M. kam als | |
Abc-Schützin aus Kasachstan nach Berlin. Sie trägt einen langen Rock, | |
genauso wie ihre Töchter. „Vor der AfD habe ich keine Partei gefunden, die | |
die Familie stärkt, Sex vor der Ehe, die Pille und Homosexualität nicht | |
will“, sagt sie. Janna M. besucht seit ihrer Kindheit eine evangelikane | |
Kirchengemeinde, in der Russlanddeutsche unter sich sind. „In anderen | |
Kirchen sind die Gottesdienste viel zu schnell vorbei. Und die Leute achten | |
Gottes Wort nicht. Sie rauchen und trinken“, sagt M. | |
Tatsächlich hängen rund um den Mix-Markt viele AfD-Plakate. Die | |
rechtspopulistische Partei wirbt um die Stimmen der Russlanddeutschen. Sie | |
verteilt sogar Wahlkampfmaterial in russischer Sprache. Für ein Gespräch | |
mit der taz will in der AfD jedoch niemand Zeit haben. Doch ihr | |
wertkonservatives Weltbild fällt bei einem Teil der Russlanddeutschen | |
ebenso auf fruchtbaren Boden wie deren Flüchtlingspolitik und Islamabwehr. | |
Viele Russlanddeutsche sehen sich selbst nicht als Flüchtlinge oder | |
Ausländer. Sie sehen Deutschland als ihre traditionelle Heimat an, in die | |
sie zurückgekehrt sind. „Es gibt Russlanddeutsche, die sehen sich als die | |
eigentlichen Deutschen. Wir hätten uns in ihren Augen von deutschen | |
Tugenden abgewandt“, sagt Ernst-Gottfried Buntrock, pensionierter | |
evangelischer Pfarrer und Grünen-Mitglied in Marzahn. Er hat viele | |
Jahrzehnte in Russland und der Ukraine mit Russlanddeutschen gearbeitet, | |
später in seiner Marzahner Kirchgemeinde. „Der Nationalismus der AfD und | |
der russische Nationalismus, der im russischen Staatsfernsehen propagiert | |
wird, sind sich gar nicht so unähnlich.“ | |
Buntrock erinnert an den Fall Lisa: Ein russlanddeutsches Mädchen hatte | |
letzten Winter angegeben, von einer Horde Araber vergewaltigt worden zu | |
sein. Das russische Staatsfernsehen hatte den Fall aufgegriffen und | |
deutschen Ermittlern und Medien Vertuschung vorgeworfen. Russlanddeutsche | |
hatten gemeinsam mit NPD- und AfD-Politikern vor einem Marzahner | |
Einkaufszentrum und vor dem Bundeskanzleramt für Aufklärung demonstriert. | |
Letztlich stellte sich heraus, dass das Mädchen die Geschichte erfunden | |
hatte. | |
Nicht alle Russlanddeutschen sind wertkonservativ, sagt Manuela Schmidt. | |
Die Linken-Abgeordnete bewirbt sich um ein Direktmandat in Marzahn und hat | |
hier unter Russlanddeutschen viele Stammwähler. Man kennt die 53-jährige | |
Politikerin. Für sie sei es noch gar nicht ausgemacht, dass die AfD | |
tatsächlich so hohen Zuspruch bekommt, sagt sie. Schmidt räumt allerdings | |
ein, Menschen aus evangelikanen Kreisen wie Janna M. nicht an ihren | |
Wahlständen zu sehen. „Ich höre den Spätaussiedlern zu. Und ich habe Dinge | |
auf den Weg gebracht, die ihnen wichtig sind, wie beispielsweise eine | |
bilinguale deutsch-russische Kita“, sagt sie. | |
## Tiefe Verunsicherung | |
Allerdings: Auch Schmidt weiß, dass die Flüchtlingskrise seit einem Jahr | |
„zu einer tiefen Verunsicherung unter Spätaussiedlern geführt hat.“ Eine | |
Verunsicherung, die sie versteht. „Ängste sind bei Menschen stärker | |
ausgeprägt, die immer noch um die eigene Integration kämpfen müssen.“ So | |
mahnt Schmidt die Anerkennung von Berufsabschlüssen der Spätaussiedler an. | |
„Es ist gar nicht selten, dass Architekten oder Lehrer putzen gehen, weil | |
ihr Berufsabschluss nicht anerkannt ist.“ | |
CDU-Chef in Marzahn-Hellersdorf ist Sozialsenator Mario Czaja. Vor 15 | |
Jahren hatte sein Bezirksverband noch 80 russlanddeutsche Mitglieder. Vor | |
fünf Jahren waren es 20, heute steigt die Zahl wieder leicht an. | |
Czaja sagt: „Aus Reaktionen an Wahlkampfständen weiß ich, dass die Tendenz | |
zur AfD schon stark ist.“ Mario Czaja gibt dem russischen Staatsfernsehen | |
eine Teilschuld. Dieses habe eine hohe Glaubwürdigkeit unter | |
Russlanddeutschen, würde sehr kritisch über Kanzlerin Angela Merkel | |
berichten und AfD-Chefin Frauke Petry viel Raum geben. Sein Parteikollege | |
Sergej Henke fügt hinzu: „Die Regierung in Russland wirbt gezielt um | |
Russlanddeutsche, sie möchte gut ausgebildete Leute auch zur Rückkehr | |
motivieren. | |
14 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Marina Mai | |
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