# taz.de -- Rechte Gewalt in Vorpommern: „Er kam frontal auf mich zugerast“ | |
> Eine junge Frau wird in Vorpommern von einem NPD-Funktionär mit seinem | |
> Auto angefahren. Kein Einzelfall, wie sich herausstellt. | |
Bild: Vor der NPD und weißen Lieferwagen sollte man sich in Acht nehmen | |
Ich war mit meinen Eltern im Urlaub auf Usedom im Wohnmobil. Es war meine | |
erste Reise in die Region. An diesem Tag, Mitte August, wollten wir mit dem | |
Fahrrad fahren. Ich wartete auf meine Eltern in Eggessin, mitten in der | |
Stadt, an der Kreuzung mit dem Birnbaum. Neben mir war ein NPD-Großplakat, | |
halb abgerissen. NPD-Fraktionschef Udo Pastörs war noch zu erkennen. Ich | |
hatte mein Fahrrad neben mir abgestellt, aß eine Birne, da kam plötzlich | |
ein weißer Volkswagenbus angerast. Am Steuer saß ein Mann, auf dem | |
Beifahrersitz ein kleiner Junge. Ich kannte den Mann nicht. Erst später | |
erfuhr ich, dass es Tino Müller war.“ | |
Eggesin, Vorpommern, ganz im Osten Mecklenburg-Vorpommerns. 4.800 | |
Einwohner, eine Backsteinkirche, hinter der Stadt viel Heidelandschaft. | |
Und: eine Hochburg der NPD. Seit Jahren fährt die Neonazi-Partei hier | |
Spitzenergebnisse um die 15 Prozent ein. Auch weil in der Region einer | |
ihrer umtriebigsten Funktionäre aktiv ist: Tino Müller. | |
Der 38-Jährige, ein gelernter Maurer, zwei Kinder, ist seit seiner Jugend | |
in der rechten Szene aktiv. Er gehörte zu den führenden Kameradschaftlern | |
im Land. 2005 trat Müller in die NPD ein – ein Jahr später saß er für die | |
Partei im Schweriner Landtag, wurde ihr Vizefraktionschef. Zur jüngsten | |
Wahl Anfang September kandidierte Müller für die NPD auf Listenplatz zwei. | |
„Als der Volkswagenbus auf meiner Höhe war, bog er plötzlich ab und fuhr | |
frontal auf mich zu. Ich guckte dem Jungen auf dem Beifahrersitz | |
erschrocken in die Augen. Dann rammte das Auto mein Fahrrad am Hinterrad, | |
ich konnte gerade noch zur Seite springen. Tino Müller bremste, sprang aus | |
dem Wagen und schrie mich sofort an. Eine „linke Göre“ sei ich, gegen die | |
man vorgehen müsse. Ich könne hier nicht alles kaputtmachen. Wie ich hieße? | |
Ich sagte es ihm nicht. Der Junge guckte mich erschrocken an, mein Fahrrad | |
lag direkt vor dem Auto. Ich wollte es aufheben und wegfahren. Aber Müller | |
hatte es schon genommen und hielt es fest, während er mich weiter anschrie. | |
Ich sagte, er solle mir mein Fahrrad wiedergeben. Müller erwiderte, das | |
könne ich vergessen. Ich hatte riesige Angst und fing an zu weinen. Ich | |
wollte nur weg.“ | |
Tino Müller gehört zu den radikalen Vertretern seiner Szene. Seine | |
Kameradschaften trugen klingende Namen wie „National-Germanische | |
Bruderschaft“. Müller mischte auch bei der Heimattreuen Deutschen Jugend | |
mit, die in Zeltlagern Kinder ideologisch drillte. Die Gruppe wurde 2009 | |
vom Bundesinnenministerium verboten: Sie verbreite „nationalsozialistisches | |
Gedankengut“ und schule Kinder in „Rassenkunde“. | |
In Ueckermünde, unweit von Eggesin, war Müller Sprecher für die rechte | |
Tarnliste „Schöner und sicherer wohnen“, die gegen Asylbewerber mobil | |
machte. In der Stadt betrieb er bis vor Kurzem auch sein Abgeordnetenbüro. | |
Im Landtag wetterte Müller gegen die „zionistische Unterdrückungspolitik“, | |
Roma nannte er „eine Zumutung“, den Holocaustgedenktag „unerträglich“, | |
demokratische Mitparlamentarier „antideutsches Gesindel“. 65 Ordnungsrufe | |
erhielt er in seinen zwei Legislaturperioden im Parlament. 16-mal wurde er | |
von Sitzungen ausgeschlossen. | |
In der NPD Mecklenburg-Vorpommerns ist solch eine Vita kein Einzelfall. Der | |
bisherige Fraktionschef Udo Pastörs ist wegen Volksverhetzung verurteilt, | |
der Abgeordnete David Petereit ebenso, der Landeschef Stefan Köster ist es | |
wegen gefährlicher Körperverletzung. | |
„Tino Müller nahm sein Handy und machte mehrere Anrufe. Er beschrieb den | |
Ort, wo wir standen, und sagte etwas von „linkem Gesindel, dem man es mal | |
zeigen muss“. Ich überlegte, die Polizei anzurufen, aber ich hatte Angst | |
und wusste gar nicht, wo genau ich war. Ich sagte noch mal, er solle mir | |
mein Fahrrad geben und mich fahren lassen. Müller ging nicht darauf ein und | |
hielt es weiter fest. Ich ging etwas weiter weg und holte mein Handy aus | |
der Jackentasche. Da rief auch Müller plötzlich, er werde jetzt die Polizei | |
rufen und mich wegen Sachbeschädigung anzeigen. Auch ich wählte den Notruf. | |
Noch während ich mit dem Polizisten telefonierte, schrie mich Müller weiter | |
an. Ich hoffte, dass meine Eltern bald kommen. Aber es kam niemand. Keines | |
der vorbeifahrenden Autos hielt an. Auch der Junge beobachtete uns nur und | |
stieg nicht aus.“ | |
Robert Schiedewitz betreut Opfer rechter Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern | |
beim Verein „Lobbi“, auch den Vorfall von Eggesin. Dieser zeige, wie „frei | |
von Recht und Gesetz“ sich die rechte Szene in manchen Landesteilen | |
aufführe, sagt er. „Gerade im Wahlkampf gehen NPD-Anhänger besonders | |
aggressiv gegen ihre vermeintlichen politischen Gegner vor, wenn sie sich | |
in Sicherheit wähnen.“ | |
Und der Übergriff sei kein Einzelfall. Ein weiterer Urlauber sei von einem | |
anderen NPD-Aktivisten in Usedom zu Boden gedrückt und geschlagen worden, | |
weil er durch diesen verdächtigt wurde, NPD-Plakate abgerissen zu haben. | |
„Selbst wenn Plakate beschädigt worden sind, rechtfertigt dies keine | |
Selbstjustiz“, betont Schiedewitz. | |
„Es fühlte sich ewig an, dann kamen meine Eltern. Ich erzählte ihnen, was | |
passiert war. Eine Minute später erschien ein weiterer Mann in einem | |
anderen VW-Bus. Es war Marco Müller, der Bruder von Tino Müller. In dem | |
Moment bekam ich noch mehr Angst und rief noch mal die Polizei an und | |
fragte, wann denn die Streife kommt. Marco Müller sagte kein Wort zu uns. | |
Dafür redete Tino Müller nun auch auf meine Eltern ein. Meine Mutter sagte, | |
er solle das Fahrrad loslassen. Aber Müller schob es nur neben sein Auto. | |
Dann kam endlich die Polizei. Müller rannte direkt zu den Beamten und | |
erzählte was von Sachbeschädigung. Ich sagte, dass mich Müller angefahren | |
habe. Der wurde laut und sagte, ich lüge. Auch Marco Müller sagte, ich lüge | |
die ganze Zeit schon. Meine Mutter ermahnte Marco Müller, sich nicht | |
einzumischen, er sei ja nicht dabei gewesen. Einer der Polizisten erwiderte | |
meiner Mutter, sie selbst sei ja auch nicht dabei gewesen.“ | |
Tino Müller lehnte auf Anfrage eine Stellungnahme zu dem Vorfall ab. Die | |
Staatsanwaltschaft Neubrandenburg bestätigt, dass es eine Anzeige gegen | |
Müller wegen versuchter Körperverletzung gibt. Gegen die Urlauberin aber | |
auch: wegen Sachbeschädigung an dem NPD-Wahlplakat. Zudem habe auch die | |
Polizei eine Anzeige von Amts wegen erstattet wegen falscher Verdächtigung. | |
Opferberater Robert Schiedewitz sagt, für die Betroffene sei das | |
problematisch. Es wirke für sie, als würde sie zur Täterin gemacht. „Für | |
uns gibt es keinen Grund, an der Glaubwürdigkeit der Frau zu zweifeln.“ | |
„Die Polizei nahm dann unsere Personalien auf. Tino Müller sagte den | |
Beamten, er wolle meine Personalien auch haben, damit er die Sache | |
zivilrechtlich verfolgen könne. Ich wollte das unbedingt verhindern, weil | |
ich Angst hatte, Müller könnte mich privat aufsuchen. Die Polizisten nahmen | |
die Daten dann im Auto auf. Danach sagten sie, wir könnten jetzt gehen. | |
Einer der Beamten rief Tino Müller noch zu, dass er ihm meine Personalien | |
später per Telefon durchgeben könne.“ | |
In Vorpommern haben sich Müller und seine NPD über die Jahre festgesetzt. | |
Der Neonazi gibt sich als Kümmerer für den abgehängten ländlichen Raum. Er | |
gründete einen „Heimatbund Pommern“, mit dem er Wanderungen organisierte. | |
Seine Frau engagierte sich als Elternrat an der Schule. Die Rechtsextremen | |
beteiligten sich an Volksfesten, Müller sprach bei einem Osterfeuer eines | |
Nachbarorts als Redner. NPD-Sympathisanten betreiben in der Region | |
Gaststätten oder einen Pflegedienst, sie sind Handwerker oder bei der | |
Freiwilligen Feuerwehr aktiv. Die Neonazis sind Nachbarn, bei vielen | |
akzeptiert, man kennt sich. | |
Für Andersdenkende aber schafften die Rechtsextremen eine „Atmosphäre der | |
Angst“, wie der Bundesrat in seinem aktuellen NPD-Verbotsantrag darlegt. | |
Vorpommern wird als eines der Beispiele benannt. Der Partei gelinge „seit | |
Jahren eine bürgerliche Verankerung in weiten Räumen des Landes“. | |
Gleichzeitig sorge sie mit Einschüchterungen dafür, dass politische Gegner | |
keinen Widerspruch mehr wagten. Die NPD werde Normalität – und mit ihr die | |
harte Propaganda. | |
Bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern vor gut einer Woche | |
scheiterte die Partei indes, erdrückt vom AfD-Erfolg: Mit 3 Prozent flog | |
sie aus dem Landtag. In Eggesin hätte sie den Wiedereinzug locker | |
geschafft, hier holten die Rechtsextremen 11,1 Prozent der Stimmen – obwohl | |
auch die AfD 23,1 Prozent bekam. | |
Tino Müller wird seine Politik weitermachen: Er sitzt noch im Kreistag von | |
Vorpommern-Greifswald. Im Bundesland hält die NPD weiter noch 45 | |
Kommunalmandate. In der Partei wird nach der Wahlschlappe diskutiert, ob | |
sie sich nicht radikalisieren müsse, um sich von der AfD abzusetzen. | |
Auch will die NPD wieder stärker ihren Fokus aufs Außerparlamentarische | |
legen, auf den „Kampf um die Straße“, wie es in der Szene heißt. „Das l… | |
befürchten, dass sich gewalttätige Vorfälle wie in Eggesin wieder häufen“, | |
sagt Opferberater Schiedewitz. | |
„Selbst als Tino Müller und sein Bruder weg waren, konnte ich nicht | |
aufhören zu weinen. Weil ich mich nicht beruhigen konnte, fuhren meine | |
Eltern und ich ins Krankenhaus. Ein Arzt stellte dort fest, dass ich unter | |
Schock stand. Der Vorfall lässt mich bis heute nicht los. Nach Vorpommern | |
werde ich jedenfalls erst mal nicht mehr fahren, ganz besonders nicht in | |
Wahlkampfzeiten. Ein schöner Urlaub sieht anders aus.“ | |
Die Betroffene möchte wegen des laufenden Ermittlungsverfahrens anonym | |
bleiben. Protokoll: Konrad Litschko | |
12 Sep 2016 | |
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