# taz.de -- Nach dem Erdbeben in Italien: Schutt und Stille | |
> 292 Tote hinterließ das Beben in Italien, in Amatrice starben die meisten | |
> Menschen. Die Aufräumarbeiten laufen präzise. | |
Bild: Die mittelalterliche Kirche Sant'Agostino war eine Sehenswürdigkeit – … | |
Amatrice taz | „Mamma mia!!“ entfährt es der jungen Polizistin, als sie auf | |
den enormen Schutthaufen schaut, der vor nicht einmal zwei Wochen noch ein | |
Wohnhaus war. Gerade ist sie nach Amatrice abgeordnet worden. Auf einem | |
Rundgang verschafft sie sich einen Eindruck, und obwohl sie die Bilder der | |
Zerstörung doch alle aus dem Fernsehen kennt, ist sie sichtlich geschockt. | |
Es sind die Details, die aufwühlen. Die drei Stofftiere zum Beispiel, | |
Minnie, Pluto und ein Teddybär, die arglos scheinend auf den Steinbrocken | |
hocken, das braune Kuvert eines Einschreibebriefs, der Poststempel aus dem | |
Jahr 1989, das mit weißen Laken bezogene alte Ehebett, das ganz oben auf | |
dem Schuttberg thront, der „Anna Karenina“-Band zwischen verbogenen | |
Leitungsrohren. Seine Schwägerin habe hier gewohnt, erzählt ein | |
untersetzter, fülliger Mann in Bermudashorts, an den Füßen Badeschlappen, | |
seine roten Haare sind zu einem Bürstenschnitt gestutzt. | |
Drei Stockwerke habe das Haus gehabt, berichtet er, und dann fängt er an, | |
an den Fingern abzuzählen, „fünf, sechs – nein, sieben.“ Sieben Menschen | |
konnten nur noch tot aus den Trümmern gezogen werden, drei überlebten, | |
unter ihnen die Schwägerin. Er selbst wohnte auf der anderen Seite des | |
kleinen Platzes, in einem sechsstöckigen Wohnblock, genauso in Stahlbeton | |
ausgeführt wie das zusammengekrachte Haus, „aber bei uns gab es keine | |
Toten, keine Verletzten, unser Bau ist stehen geblieben. Mein Freund Rocco, | |
seine Frau, ich selbst – wir alle sind heil rausgekommen“. | |
Doch die Schäden, die tiefen Risse in der Fassade sind unübersehbar, | |
vorerst kann hier keiner wohnen. Im Zeltlager sei er nicht, erzählt der | |
Mann dann noch, „gleich nach dem schweren Erdbeben von L’Aquila 2009 habe | |
ich mir seinerzeit einen Wohnwagen gekauft“. | |
## Die Zeit steht still | |
Um 3.36 Uhr brach das Beben am 24. August über die Menschen von Amatrice | |
und den umliegenden Orten herein, brachte fast 300 von ihnen den Tod, riss | |
alle anderen aus der Bahn. Still ist es auf den Straßen, man sieht keine | |
Autos, nur wenige Menschen sind unterwegs, kein einziger Laden ist offen. | |
Einfach stehen geblieben zu sein scheint die Zeit seit jener Nacht. | |
Vor dem Trümmerhaus steht noch das Schild, das für den 24. August auf dem | |
Platz ab 6 Uhr ein Halteverbot verhängte, wegen des Markts. Gleich um die | |
Ecke verkündet eine Leuchtreklametafel der Stadtverwaltung das | |
Wochenprogramm, „24.08. Konzert, 25.08. Theater, 27.08. Fest der Spaghetti | |
all’amatriciana“. Die rote Schrift läuft einfach weiter, ununterbrochen, so | |
als sei immer noch der 23. August. | |
Doch seit dem 24. August ist mitten in der Trümmerlandschaft eine | |
Parallelwelt entstanden – eine Welt aus Zeltplanen, Containern, | |
Wohnmobilen. Nur einen Steinwurf von der Reklametafel entfernt liegt der | |
Sportplatz. „Ciao Franco!“, rufen fünf Männer in Uniform, von der Polizei, | |
vom Zivilschutz, vom Roten Kreuz, am Eingang einem vielleicht vierjährigen | |
Buben zu, der fröhlich hüpfend an der Hand seiner Mutter ins Zeltlager | |
kommt. „Siehst du, die kennen dich hier alle“, flüstert ihm die Mama stolz | |
zu. | |
## Ein Koch aus Sardinien | |
An die 40 Großzelte erstrecken sich in langen Reihen über das gesamte | |
Fußballfeld, Kies ist auf dem Rasen geschüttet, damit sich bei Regen keine | |
Wasserlachen bilden, auf den Wäscheständern vor den Zelten trocknen | |
T-Shirts und Jeans. Doch die meisten Zelte sind gerade leer, in einer | |
langen Schlange stehen die Menschen vor dem Container an, an dem das | |
Mittagessen ausgegeben wird. Die sardische Fahne mit den vier Mohren auf | |
dem Dach des Containers verrät die Herkunft des Kochs. „Der macht seinen | |
Job gut, hier schmeckt es prima“, sagt ein älterer Herr in der Schlange | |
voller Anerkennung. | |
„Ein kleines Stück Normalität zurückgeben“, so beschreibt der Koordinator | |
des vom Zivilschutz geführten Lagers seinen Auftrag, und dazu gehört auch | |
gutes Essen. Paolo Gatta, ein junger, drahtiger Ingenieur, dessen Polohemd | |
mit Zivilschutzlogo perfekt sitzt, setzt auf zweierlei – auf die Effizienz | |
der Abläufe und auf die Zuwendung zu den betreuten Personen. | |
Schwer traumatisiert seien hier viele, und je größer der zeitliche Abstand | |
zu dem Beben werde, desto klarer werde ihnen das ganze Ausmaß ihrer | |
persönlichen Katastrophe. „Das sind Menschen, die mit ihrem Haus oft alles | |
eingebüßt haben, was sie sich ein Leben lang aufgebaut haben, gar nicht zu | |
reden von denen, die engste Familienangehörige verloren haben.“ | |
## Präzis organisierte Hilfe | |
Es den Menschen durch perfekte Organisation so annehmlich wie möglich zu | |
machen – das ist die eine Antwort des Zivilschutzes. Die | |
Scheinwerferbatterien für die nächtliche Beleuchtung, die Heizstrahler in | |
den Zelten, in denen es nachts schon empfindlich kalt wird, die Ausgabe von | |
Kleidern und anderen Dingen des täglichen Bedarfs: nichts hier wirkt | |
improvisiert, und die Hilfe wurde ebenso zügig wie präzise organisiert. | |
Selbst die Zufahrt zu dem Ort, zunächst unmöglich, weil eine Brücke | |
zerstört war, wurde in nur wenigen Tagen mit dem Bau einer Behelfsbrücke 50 | |
Meter weiter wiederhergestellt. „Wir haben das Lager am Tag des Bebens | |
binnen sechs Stunden errichtet und sofort 180 Menschen aufgenommen“, | |
bilanziert Gatta. Jetzt hat das Lager über 250 Bewohner, um die sich 130 | |
Zivilschützer kümmern, fast alle von ihnen Ehrenamtliche. | |
Um das Camp herum ist zudem eine nahezu komplette Behelfsinfrastruktur | |
entstanden. Die Post und die Genossenschaftsbank sind in Wohnmobilen | |
untergebracht, der Tierarzt empfängt in einer kleinen Holzhütte, Modell | |
Schrebergarten. Im Camp, darauf legt Paolo Gatta wert, sind auch Haustiere | |
zugelassen. Die Apotheke wiederum hat in einem Container Platz gefunden. | |
Und gleich oberhalb des Lagers erhebt sich das Großzelt des Staatlichen | |
Gesundheitsdienstes. | |
## Das Krankenhaus macht weiter | |
Auch das örtliche Krankenhaus wurde durch das Beben schwer beschädigt, doch | |
die Grundversorgung steht wieder. Vom weiträumigen Eingangsbereich gehen | |
fünf Zelte ab, alle als ärztliche Behandlungszimmer hergerichtet. „Wir | |
haben hier Haus- und Kinderarzt, das Verbandszimmer, und in den nächsten | |
Tagen nimmt auch der Kardiologe seine Arbeit auf“, fasst die Leiterin | |
Domenica Tomassoni zusammen. | |
Auch das sei „ein Stück wiedergewonnene Normalität“, sagt sie, während | |
gerade ein älterer Herr in eines der „Sprechzimmer“ an ihr vorbeihumpelt �… | |
Normalität für die Patienten, aber auch für die Ärzte, die durch das Beben | |
ja auch ihre Arbeitsstätten verloren haben. | |
Doch sosehr die Helfer von Normalität reden, Illusionen machen sie sich | |
nicht. Die Menschen in Amatrice leben im Ausnahmezustand, viele stehen | |
unter Schock. Am Eingang zum alten Ortskern beginnt die Rote Zone, der | |
Zutritt dazu ist verboten. Doch die Feuerwehrleute begleiten immer wieder | |
Einwohner zu ihren Häusern, damit sie dort ein paar Habseligkeiten | |
zusammenklauben können. Gerade bringen sie eine alte Frau zurück, tief | |
gebeugt geht sie, gestützt von zwei Feuerwehrmännern, völlig leer ist ihr | |
Gesicht, ganz so, als sei ihr die Lebenskraft geraubt. | |
## Den Menschen Halt geben | |
Von Menschen wie ihr sprechen die Psychologinnen im Camp. Angiola Lescai, | |
genauso zierlich wie energisch, ist aus Rom gekommen, sie arbeitet für die | |
Vereinigung „Psychologen für die Völker“, die auf Beistand in | |
Extremsituationen spezialisiert ist. „Wir müssen den Menschen das Gefühl | |
zurückgeben, dass sie überhaupt als Personen existieren; solche | |
Katastrophen, solche Verluste gehen an den Kern der Identität“, fasst sie | |
zusammen. Dafür brauche es Zuhören, Respekt, Nähe, Sensibilität. „Vor all… | |
aber immer wieder Zuhören.“ | |
Nach zwei Tagen werden die Psychologinnen und Psychologen abgelöst, zu nahe | |
gehen ihnen die Geschichten, die sie hören. Geschichten wie die, die | |
Fabrizio erzählt. Der schlanke, grauhaarige Mann betreibt ein Lokal unten | |
am Fuß von Amatrice, direkt an einem smaragdgrünen Forellenteich. „Ich war | |
in der Nacht sofort oben“, berichtet er, oben vor dem Haus des Metzgers | |
Pompeo, den er gut kannte. Pompeos Frau und seine zwei Kinder zogen sie | |
schnell aus den Trümmern, lebend. „Doch Pompeo lag unter dem Schutt, er | |
sprach mit mir, er sagte: ‚Meine Beine sind eingeklemmt‘.“ Fabrizios Stim… | |
stockt. „Wir hatten kein Gerät, wir haben alles versucht, wir haben mit | |
bloßen Händen gegraben, immer wieder haben wir Pompeo angesprochen – doch | |
dann war es mit einem Mal still.“ | |
Aufgeben aber wollen die Menschen hier nicht. „Wir sind Montanari“, sagt | |
einer von Fabrizios Freunden, und er meint: dickschädlige Leute aus den | |
Bergen. „Natürlich konnten wir am Wochenende nach dem Erdbeben das Fest der | |
Spaghetti all’amatriciana nicht feiern. Im Zeltlager aber gab es am Sonntag | |
die Pasta all’amatriciana für alle, für die Bewohner des Camps wie für die | |
Helfer.“ | |
11 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Michael Braun | |
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