# taz.de -- Debatte AfD und Mittelschicht: Die Macht der Kränkung | |
> Die Mittelschicht wurde nicht ökonomisch abgeschafft, sondern politisch | |
> und kulturell. Ihre neue Identität speist sich aus Verunsicherung. | |
Bild: Der Deal der Mittelschicht: bescheidener Reichtum, dafür Sicherheit | |
Seit geraumer Zeit herrscht Übereinstimmung, dass Pegida und AfD ihren | |
Zulauf nicht so sehr von der Seite der „Verlierer“ und der „Opfer“ des | |
immer brutaleren Wettbewerbs um Arbeit und Leben erhalten als vielmehr von | |
einer „verunsicherten Mittelschicht“. Von Leuten, denen es real noch | |
ziemlich gut geht, erst recht im internationalen Vergleich. | |
Er steht förmlich vor uns, der verunsicherte Mittelschichtler, der gerade | |
von einer Kreuzfahrt nach Hause kommt, den Rasen gemäht und den | |
Fernsehapparat eingeschaltet hat, und dann zu dem Ergebnis kommt, dass alle | |
ihm was wegnehmen wollen. Die Banken, die Merkel, die Sozialschmarotzer und | |
vor allem natürlich: die Flüchtlinge. Dann macht der Mittelschichtler sein | |
Bier auf und sein Wahlkreuz bei der AfD. | |
Was hat er geschafft? Gleich drei Sachen auf einmal: Er, der Halbgewinner, | |
hat sich als Opfer inszeniert. Er fühlt sich als Mittelschichtler verdrängt | |
und erfindet sich als Volk und Nation neu. Er übt auf das „Establishment“ | |
einen enormen Druck aus: Man soll gefälligst seine Sorgen und Ängste ernst | |
nehmen, man soll gefälligst ihm nicht nehmen, sondern geben, mehr vom | |
Kuchen will er haben. | |
Er verlangt, dass ihm vorgeführt wird, dass der Staat die anderen | |
schlechter behandelt als ihn selbst. Wer sich zur Mittelschicht zählen | |
will, der muss das genießen, dass man die da unten, in den Jobcentern und | |
auf den Wohnungsämtern, so drastisch mies behandelt. Anderswo würde man so | |
was vielleicht sogar Erpressung nennen: Wenn die Demokratie uns | |
Mittelschichtlern unsere Privilegien nehmen will, dann werden wir aber | |
sowas von populistisch Krawall machen. | |
Und plötzlich fühlt er sich wieder unter sich, der Mittelschichtler, der | |
gerade drauf und dran war, nicht mehr zu wissen, was das eigentlich ist: | |
die Mitte. Wo doch alle in die Mitte wollen. Aus seiner Verunsicherung ist | |
„Identität“ geworden, aus seiner Kränkung eine neue politische Macht. | |
## Bescheidenheit gegen Sicherheit | |
Vielleicht fing das ja alles schon damit an, dass eben eine Mittelschicht, | |
die Mitte des Einkommens und die Mitte von Bildung und Verblödung, zum | |
eigentlichen Adressaten der demokratischen Politik gemacht wurde. Soziale | |
Marktwirtschaft hieß einfach: Politik für die Mittelschicht. Das große | |
Versprechen war: Der Mittelschicht wird es nie schlechter, immer nur besser | |
gehen. Mittelschicht wurde nicht nur zum ökonomischen Ideal des | |
Wohlfühlkapitalismus, sondern auch kulturell und medial erzeugt. | |
Der Haken an einer Mittelschicht ist, dass sie sich irgendwie definieren | |
muss. Wenn ich zur Mitte gehören will, dann muss es eine Grenze nach unten | |
und eine Grenze nach oben geben. Die Mittelschicht im Nachkriegsdeutschland | |
machte einen großen inoffiziellen Deal: Wir begnügen uns mit einem schönen, | |
aber am Ende auch bescheidenen Anteil am Reichtum im Austausch gegen | |
(soziale, ökonomische, kulturelle) Sicherheit. Die Mittelschicht sorgte in | |
Form von ausgewogenen Verhältnissen zwischen dem Konservativen, dem | |
Liberalen und dem Sozialdemokratischen für demokratische Stabilität. | |
Dann kamen die ersten Krisen. Die Abgrenzung nach unten wurde | |
problematisch, Sicherheit war nicht mehr selbstverständlich zu haben, die | |
Abgrenzung nach oben war nicht mehr erwünscht; der erfolgreiche Mensch im | |
Neoliberalismus gehört keiner Schicht an, sondern ist das ökonomische | |
Subjekt seiner Karriere. Der Deal war geplatzt. Die Mittelschicht wurde | |
keineswegs ökonomisch abgeschafft, wohl aber politisch und kulturell. | |
Und alle Politik war nur Gebrabbel von einer Mitte, in die alle wollen, | |
sogar die Nazis, und die Sozis sowieso. Und die es immer weniger gab. Die | |
Mittelschicht hatte ihre Schuldigkeit getan (einschließlich der | |
Schuldigkeit gewisser, durchaus heftiger Modernisierungen, was zum Beispiel | |
Sexualität, Familie und Dresscode anbelangt). Das Kapital jedenfalls wollte | |
woanders hin. Und die Politik folgt bekanntlich dem Kapital. | |
## Künstlich neu identifizieren | |
Das Konzept Mittelschicht aufzugeben, das ja ohnehin kein moralisch gutes | |
sein konnte, weil es immer „die anderen“ braucht, die nicht dazugehören, | |
die ausgegrenzt und ungehört bleiben sollen, bedeutet ja auch, Ansprüche | |
aufzugeben, nach außen die Ansprüche nach der gewohnten staatlichen | |
Privilegierung und Sicherung, nach innen die Ansprüche an die | |
Verlässlichkeit von Familie, Vorsorge und bescheidenem Eigentum. | |
Die zweite Möglichkeit war das genaue Gegenteil: Die ökonomische | |
Mittelschicht, die sich politisch und kulturell entwertet sah, musste eine | |
neue Identität finden, nachdem der Pakt mit der „ausgewogenen“ oder einfach | |
selbstverständlichen Demokratie aufgekündigt war. Sie musste sich sozusagen | |
„künstlich“ noch einmal identifizieren. | |
Die Mittelschicht, also der Zusammenhang jener Menschen, die sich selbst so | |
definieren, als abgegrenzt nach oben wie nach unten, erfand sich für einen | |
wachsenden Teil der historischen Konkursmasse daher als „deutsches Volk“ | |
neu. Und die Mainstreampolitiker, gewöhnt, die Mittelschicht wenigstens | |
rhetorisch zu bedienen, kommen auch dieser neuen Variante entgegen. Was | |
aber, wenn der Teil der Mittelschicht, der um der eigenen Privilegien und | |
der eigenen „Identität“ willen Pegida und AfD bildete, seinerseits längst | |
mit dem Konzept der liberalen Demokratie gebrochen hätte? | |
## Komplizierte Verhältnisse | |
Nicht aus Verblendung, nicht aus Angst, sondern aus sehr deutlichen | |
materiellen Interessen heraus: Wenn die Demokratie dieser (der | |
geschrumpften, der radikalisierten, der militanten) Mittelschicht nicht | |
dienen will, dann will diese Mittelschicht auch nicht mehr dieser | |
Demokratie dienen. Die einen machen das sehr laut, lustvoll Hass auf | |
Sündenböcke leitend und die eigene Bewegung verstärkend, durch den Genuss | |
der leichten Triumphe; die anderen aber unsichtbar, privatistisch, | |
verbittert oder vergnügt „entpolitisiert“ oder korrupt. | |
Das alles ist natürlich nur eine Geschichte, eine Karikatur vielleicht. Die | |
wahren Verhältnisse sind wieder mal viel, viel komplizierter, und sie | |
werden es noch mehr, je genauer man sie ansieht. Und doch werden wir um die | |
Frage nicht herumkommen: Was, wenn der politische-soziale-kulturelle Pakt | |
der Mittelschicht mit der kapitalistischen, liberalen Demokratie | |
aufgekündigt wird, der uns ein halbes Jahrhundert die Illusion einer Insel | |
der Glückseligen verschaffte? | |
8 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Georg Seeßlen | |
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