# taz.de -- Türkei-Experte Günter Seufert: „Die Zeit der Putsche ist vorbei… | |
> Die Putschisten wollten wohl einer Säuberungsaktion zuvorkommen. Militär | |
> und Regierung müssen sich neu arrangieren. | |
Bild: „Die Menschen haben Leib und Leben eingesetzt, um einen Putsch zu verhi… | |
taz: Herr Seufert, was ist in der Türkei passiert? | |
Günter Seufert: Das war ein sehr stümperhaft durchgeführter Putschversuch | |
einer relativ kleinen Gruppe. Das türkische Militär hat rund 350 Generäle, | |
bis zu 40 sollen am Putsch beteiligt gewesen sein. Das zeigt, wie isoliert | |
diese Gruppe in der Armee war. | |
Wer sind diese Generäle? | |
Die meisten stammen aus der Kommandantur der Gendarmerie und der Luftwaffe. | |
Und warum jetzt? | |
Die Regierung hatte eine Säuberung der Armee vom – wie sie sagt – Netzwerk | |
der Gülen-Bewegung angekündigt, die noch vor der nächsten Versammlung des | |
Hohen Militärrates im August stattfinden sollte. Bis zu 600 „Verdächtige“ | |
sollten entfernt werden, darunter auch Generäle. Es sieht so aus, als ob | |
diese Betroffenen zusammen mit anderen Kreisen im Militär, die mit der | |
Politik Erdoğans nicht einverstanden sind, bereits vorhandene Putschpläne | |
überhastet umgesetzt haben. | |
Warum ging das so nach hinten los? | |
Die Putschisten hatten wohl gehofft, dass eine signifikante Mehrheit in der | |
Armee sich ihnen anschließen würde. Eine sehr gewagte Spekulation, da es | |
für das Militär gerade ganz gut läuft. Es hatte etwa lange vor dem Juni | |
2015 ein härteres Vorgehen gegen die PKK gefordert, der heutige Kurs der | |
Regierung ist also im Sinne des Militärs. Auch in der Außenpolitik hat sich | |
die Regierung in den letzten Wochen der klassischen kemalistischen Politik | |
angenähert: die Beziehungen zu Israel wieder aufgenommen, sich bei Putin | |
entschuldigt. | |
Also eine völlig falsche Einschätzung der Lage? | |
Die Putschisten befanden sich in einer zeitlichen Notlage. Viele Punkte, | |
die das Militär gegen die AKP hätte in Stellung bringen können, sind | |
weggefallen. Gleichzeitig gab es Berichte, wonach die erwähnten | |
Säuberungsaktionen schon am 16. Juli hätten beginnen sollen. Einen Tag | |
vorher startete der Putsch. | |
Was bedeutet das für das Militär? | |
Das Militär wird mit der Gülen-Bewegung einen lange verhassten Unruheherd | |
in seinen Reihen los. In der Regierungszeit Erdoğans konnte diese sich im | |
Staats-, Sicherheits- und Justizapparat festsetzen. Nach dem Zerwürfnis | |
zwischen Erdoğan und Gülen im Jahr 2013 ist die Regierung sehr stark auf | |
das Militär eingeschwenkt. | |
Kann man von der Entmachtung des Militärs sprechen? | |
Jein. So, wie die Bevölkerung reagiert hat, muss dem Militär klar sein, | |
dass die Zeit der Putsche in der Türkei vorbei ist. Die Menschen haben Leib | |
und Leben eingesetzt, um einen Putsch zu verhindern. Es reicht auch nicht | |
mehr, das Staatsfernsehen zu besetzen, um Deutungshoheit über bestimmte | |
Entwicklungen zu erlangen. Das Militär ist heute viel abhängiger von der | |
Regierung als früher. | |
Andererseits waren die Gülenisten auch ein Mittel der Regierung, um | |
säkulare Kräfte im Militär zu zügeln. Deshalb müssen Regierung und Militär | |
zu einem ganz neuen Modus Vivendi miteinander finden. Die Regierung muss | |
ihre eigenen Leute in der Bürokratie unterbringen, ist aber noch stark auf | |
die alten säkularen Kader angewiesen. | |
Welche Auswirkungen hat der gescheiterte Putsch auf den Justizapparat? | |
Es gab bereits vor dem Putsch eine Gesetzesvorlage, um die Anzahl der | |
Richter und Kammern am Kassationsgerichtshof um die Hälfte zu reduzieren | |
und so die Zusammensetzung der Richterschaft dort im Sinne der Regierung zu | |
gestalten. Dieser Entwurf ist noch nicht verabschiedet, die Umsetzung wird | |
mit der Verhaftungs- und Entlassungswelle aber ein Stück weit | |
vorweggenommen. In den Straf- und Verwaltungsgerichten der unteren Ebenen | |
werden die frei werdenden Stellen sicher mit regierungsnahen Kandidaten | |
besetzt. | |
Das heißt, die Gleichschaltung der Justiz wird befördert? | |
Sie wird zum Abschluss gebracht. | |
17 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
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