# taz.de -- Nachruf auf Enrique Fukman: Der Mann, der Nummer 252 war | |
> Enrique Fukman gehörte zu den wenigen Überlebenden der ESMA-Folterhaft in | |
> Argentinien. Im März traf ihn unser Korrespondent. Nun ist er gestorben. | |
Bild: 2005: Enrique Fukman zu Besuch in der ESMA. Dort war er jahrelang gefolte… | |
BUENOS AIRES taz | Als in Argentinien das Militär putschte, war Enrique | |
Fukman 19 Jahre alt und beim linksperonistischen Movimiento Montoneros | |
aktiv. Er hatte gerade die Schule für Elektrotechnik angeschlossen und zu | |
arbeiten begonnen. „Schon tags zuvor hieß es in unserer Gruppe, wir sollten | |
aufpassen, heute Nacht werde es einen Putsch geben.“ Fukman blieb zu Hause, | |
am anderen Morgen hörte er die Nachricht im Radio. „Ich ging zur Arbeit, um | |
mit meinen Kollegen zu besprechen, was wir gegen den Putsch machen können. | |
Viele waren ratlos.“ | |
„Ab Mai 1976 verschwanden plötzlich Compañeros.“ Im August 1976 wurde sein | |
Haus durchsucht, die versteckte Druckmaschine der Metall-Gewerkschaft wurde | |
gefunden. Fukman tauchte unter, versteckte sich bei Freunden. „Vor allem | |
ging es darum, den Widerstand der Leute zu organisieren,“ beschreibt er | |
seine Zeit im Untergrund. Am 5. Februar 1977 wurde sein jüngerer Bruder auf | |
der Straße im Stadtteil La Boca von der Polizei erschossen. „Er war 17 als | |
sie versuchten, ihn gefangen zu nehmen.“ | |
Als sie nicht mehr nach ihm suchten, begann er an der Universität Buenos | |
Aires Ingenieurswissenschaften zu studieren, engagierte sich in den | |
Studentengruppen. Am Abend des 18. November 1978 besuchte er eine Compañera | |
in ihrem Elternhaus. Als er nach Hause ging, wurde er entführt. „Ich wurde | |
ein Zufallsopfer, denn eigentlich suchten sie jemanden anderen.“ | |
Sie stießen ihn auf die Straße, Handschellen, Kapuze über den Kopf, | |
Rücksitz im Auto, verbrannten ihn mit Zigaretten und fragten nach | |
Compañeros. Dann steckten sie ihn in den Kofferraum und fuhren zu einem | |
Ort. Dort führten sie ihn in einen Keller, zogen ihn aus, fesselten ihn auf | |
ein Metallbett und fingen an, ihn mit Elektroschocks zu foltern. „Das war | |
mein Willkommen in der ESMA“ sagt er. | |
## Einer von 300 Überlebenden | |
Die ESMA, die Mechanikerschule der Marine in Buenos Aires, liegt an der | |
vielbefahrenen Avenida Libertador. An freundlichen Tagen weht ein frischer | |
Wind vom Ufer des nahen Río de la Plata herüber. Auf dem 17 Hektar großen | |
Gelände an der nördlichen Stadtgrenze von Buenos Aires stehen 34 Gebäude. | |
Gegenüber beginnt das Mittelklasseviertel Nuñez. | |
Nach dem Putsch richtete die Marine in der ESMA ein Gefangenlager ein. | |
Tausende wurden in die ESMA verschleppt. Für jeden Gefangenen wurde eine | |
Akte angelegt, 5.000 Akten wurden gefunden. Von den 5.000 Gefangenen haben | |
rund 300 überlebt. Enrique Fukman ist einer von ihnen. Fünfzehn Monate war | |
er in der ESMA gefangen. „Die ESMA funktionierte wie ein | |
Konzentrationslager. Gefangenschaft, Folter, Zwangsarbeit und Vernichtung. | |
In der ESMA war alles vereint, das war einzigartig in Argentinien.“ | |
Der Putsch in Argentinien war kein Zufall und kein Einzelereignis. Er war | |
Teil eines ökonomischen, politischen und kulturellen Projekts, das den | |
ganzen amerikanischen Kontinent betraf. Er reihte sich in die Serie von | |
Staatsstreichen ein mit denen die Militärs die Macht übernahmen: 1964 in | |
Brasilien, 1971 in Bolivien, Juni 1973 in Uruguay, September 1973 in Chile. | |
Und immer hatte die US-Regierung ihre Finger mit im Spiel. Für sie war der | |
Rest des Kontinents ihr Hinterhof, der kontrolliert werden musste. | |
In der ESMA waren die Gefangenen im Offizierskasino eingesperrt. „Wenn sie | |
uns mit Elektroschocks folterten, flackerte bei jedem Stromstoß das Bild im | |
Fernseher der Aufseher,“ sagt Fukman. Im Keller waren Folterräume | |
eingerichtet worden. | |
## Sie kamen, um Gefangene für die Todesflüge zu holen | |
Fukman sucht die Markierungen, die die inzwischen entfernten Zwischenwände | |
hinterlassen haben. „Der Durchgang dort ist sehr niedrig, unter den | |
Querbalken musste man sich bücken, aber wir hatten ja die Kapuzen über dem | |
Kopf und die Aufseher ließen uns mit den Köpfen gegen die Betonbalken | |
laufen.“ Fukman legt seine Hand zwischen Kopf und Balken, mit seinen 1.65 | |
Meter bleib er davon verschont. | |
Er geht die Treppe hoch. Die Kanten der Stufen sind abgeschlagen. „Von | |
unseren Eisenfesseln an den Füßen.“ Eine Seitentür führt hinter das | |
Gebäude. Hier konnten die Lastwagen vorfahren, um die mit Drogen betäubten | |
Compañeros abzuholen, zum Verschwindenlassen. Bei den Todesflügen, den | |
Vuelos de la Muerte, wurden die Compañeros über dem Río de la Plata aus den | |
Flugzeugen geworfen. „Wir gingen hinein und die wurden herausgebracht.“ Er | |
streicht über die Tür, schweigt. | |
Im Festsaal im Erdgeschoss wurde reichlich vom Offizierscorps gefeiert. | |
Auch private Feste fanden statt. “Manchmal kamen sie mit ihren Gästen und | |
zeigten ihnen die Gefangenen, wie Kriegstrophäen.“ Im ersten und zweiten | |
Stock waren die Wohn- und Schlafzimmer der Offiziere und des Lehrpersonals. | |
1977 wurden zwei Räume für schwangere Gefangene benutzt. Etwa 30 Babys | |
wurden hier geboren. Die Frauen wurden ab dem siebten | |
Schwangerschaftsmonate hierhergebracht, durften die Kapuze und Handschellen | |
abnehmen. Die Geburten wurden vom dem medizinischen Personal der Marine | |
vorgenommen, die Babys an Adoptiveltern weitergereicht. | |
## Aus Enrique Fukman wurde Nummer 252 | |
Unter dem Dach lagen die Gefangenen wie aufgereiht nebeneinander. „Wer hier | |
hereinkam, war nur noch eine Nummer.“ Aus Enrique Fukman wurde 252. La | |
Capucha, die Kapuze, wird der Dachspeicher genannt. Die Gefangenen trugen | |
immer eine Kapuze über Kopf und Gesicht. | |
Sechs Monate lag 252 hier oben, Füße Richtung Wand, Kapuze über Kopf und | |
Gesicht. „Ständig lief das Radio der Aufseher, wir wussten immer, wieviel | |
Uhr und welcher Tag es war.“ Die Männer wurden geschlagen, die Frauen | |
nicht. „Aber wenn sie von der Toilette zurückkamen, waren sie oftmals | |
vergewaltigt worden.“ | |
In Juni 1977 wurde er zum Arbeiten eingeteilt. „In 24 Stunden lernte ich | |
das Buchbinden.“ Der Schulalltag an der Mechanikerschule lief wie | |
selbstverständlich neben den Gefangenen, den Gefolterten, den Ermordeten, | |
den Verschwundenen weiter, Es gab eine Bibliothek, ein Zeitungs- und | |
Zeitschriftenarchiv. | |
Unter der anderen Dachseite war das Aquarium, la Pecera. Kleine Büros, | |
abgetrennt durch Acrylglasscheiben. „Damit uns die Aufseher leichter | |
überwachen konnten, wie Fische im Glas.“ Hier werteten Gefangene die | |
aktuellen Tageszeitungen und Zeitschriften aus, verfassten | |
Zusammenfassungen der wichtigsten Nachrichten. Auch Fukman schrieb. „Ich | |
wusste immer, was draußen passierte. Ich lass die nationale Presse, | |
Cambio16 aus Spanien, Newsweek, die Times.“ | |
## Warum? Das wissen nur sie | |
Am 18. Februar 1980 wurde er nach Hause gefahren. Warum an diesem Tag? | |
Warum er überlebte? „Das weiß ich nicht, das wissen nur sie.“ Aber die | |
Diktatur hatte Aufgaben, so Fukman. Eine Aufgabe war, Misstrauen zu | |
erzeugen. Wenn jemand entführt wurde, dann muss er auch irgendetwas gemacht | |
haben. Wenn jemand wieder auftauchte, dann muss er irgendwas getan haben, | |
damit er wieder da war. Jeder wurde verdächtigt, entweder als Krimineller | |
oder als Kollaborateur. „Das Verdächtigen ist ein mächtiges Werkzeug um das | |
soziale Gefüge und den Zusammenhalt zu brechen.“ | |
Am 19. März 2004 war er zum ersten Mal wieder in der ESMA. Die in der | |
Vereinigung der Ex-Verhafteten Verschwundenen (AEDD) zusammengeschlossenen | |
Überlebenden baten Präsident Nestór Kirchner um ein Treffen. Kirchner | |
selbst hatte dafür die ESMA vorgeschlagen. „Unsere einzige Bedingung war, | |
dass uns keine Marineangehörigen über den Weg laufen, und keine Presse.“ | |
Mit Kirchner gingen sie den Weg zum Offizierscasino, stiegen hinunter in | |
den Keller und hinauf in die Capucha. „Das war ein heftiger Tag, es war | |
auch ein Treffen mit sich selbst.“ Und es sei für ihn wie Geisteraustreiben | |
gewesen. | |
Am Mittwoch ist Enrique Fukman in Buenos Aires gestorben. Er wurde 59 Jahre | |
alt. | |
14 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Vogt | |
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