| # taz.de -- Debatte Sommerloch: Beleidigt von der Welt | |
| > Wegfahren und abschalten? Wie uns die Menschheit und das allgemeine Elend | |
| > die Urlaubslaune vermiesen. Wir halten trotzig dagegen. | |
| Bild: Was interessiert mich die Lage der Welt? | |
| Ich könnte ja einfach das Sommerloch im eigenen Kopf genießen. Stattdessen | |
| stehe ich schon auf der Fahrt in den Süden im Stau, weil Putin den Slowenen | |
| die Hände schütteln will. | |
| Er kommt im Hochsommer, damit die Leute ihn nicht nur in den Nachrichten | |
| mitkriegen, sondern stundenlang wegen ihm vor dem Tunnel stehen. Jetzt hat | |
| fast jeder Sonnensüchtige eine persönliche Erinnerung an ihn, | |
| wahrscheinlich wollte er das so. Im Süden angekommen, fragt mich sofort | |
| jeder, wie der Putin-Stau war, was Putin denn von uns Exjugoslawen will, | |
| die Russen kommen doch nicht einfach so, die kamen noch nie einfach so. Ich | |
| zucke mit den Achseln, sehe wenig später online den Bruderkuss zwischen | |
| Putin und Erdoğan. | |
| Es war noch nie so schwierig wie dieses Jahr, guten Gewissens abzuschalten. | |
| Nicht, dass es zum Abschalten überhaupt eines Gewissens bräuchte, aber | |
| selbst Leute, die noch nie ein Wort über die Lage der Welt verloren haben, | |
| fragen dieses Jahr auf einem Sommerfest: „Und, fühlt ihr euch noch sicher | |
| da oben in Deutschland?“ Ich sehe die Frau irritiert an. „Der Terror ist | |
| doch überall“, sagt sie. | |
| Im Hotel gibt man dann als gewöhnlicher Tourist sein Bestes, erholt sich | |
| zwischen schöner Aussicht und Delikatessen. Doch die erstbeste | |
| Hotelangestellte fragt nach dem entspannten Mittagessen, ob München wieder | |
| in Ordnung sei. Ihre Verwandten dort verließen derzeit nicht die Wohnung. | |
| Ich rate ihr, den Verwandten einen Gesundheitscheck zu empfehlen und sich | |
| keine Sorgen um sie zu machen. | |
| ## Pasta, Prosecco und das Elend der Welt | |
| In den schönsten unberührten Landschaften kommen mir die Leute mit Terror, | |
| Wirtschaftskrise oder sonst irgendeinem Elend. Das plätschernde Reden über | |
| alles, was auf dieser Welt nicht gelingt, hat gesiegt. Wir essen Pasta, | |
| schlürfen Prosecco und kommentieren mit einem beiläufigen Seufzen das Elend | |
| der Welt. Einen Ausschaltknopf findet kaum einer mehr. | |
| Am Meer will ich dummerweise Zeitung lesen. Auf Seite drei das Bild von | |
| Touristen in Frankreich, die wie ich faul vor dem blauen Wasser liegen. | |
| Doch hinter ihnen patrouilliert bewaffnetes Militär. Wir lassen unseren | |
| Urlaub notfalls mit Maschinengewehren bewachen, aber nehmen lassen wir ihn | |
| uns nicht. Europa ist im Krieg, suggerieren solche Bilder. Aber es ist | |
| nicht ganz nachvollziehbar, wo man diesen Krieg mitbekommt und wo nicht. Es | |
| ist ja auch nicht nachvollziehbar, wo dieser Krieg herrscht, wer ihn führt | |
| und wer von ihm betroffen ist. Nimmt man das alles vielleicht einfach zu | |
| ernst? | |
| Hunderttausende von Elektro-Fans pilgern in den Süden, füllen ganze | |
| Fußballstadien und lassen sich tagelang berauscht die Köpfe wegdröhnen. In | |
| einer großen Sporthalle, in der die Jahre zuvor meist Heilsprediger aus den | |
| USA gastierten, findet dieses Jahr ein „Pokémon Meet up“ statt. Ich lasse | |
| mir widerwillig endlich erklären, was das überhaupt ist, dieses Gehen mit | |
| Pokémon. Beim letzten „Meet up“ hier trafen sich Pokémon-Sektierer nachts | |
| und glotzten durch ihre Leuchtdisplays kollektiv-vereinsamt in die Welt. | |
| ## Die Pokémon-Zumutung | |
| Sascha Lobo schreibt, wer dem Pokémon-Zeug nichts abgewinnen könne, der sei | |
| nicht mehr in der Lage, in dieser komplexen Welt Sinn herzustellen. Nun | |
| gut. Die Zeitung stellt auf vier Doppelseiten Sinn her und die | |
| Pokémon-Monster riesengroß vor – wenn das reicht, um die Leute heutzutage | |
| von der Welt abzuziehen, okay. In einer Zeit zu leben, in der Ablenkung | |
| nichts mehr zur Entwicklung eines eigenen Stils beiträgt, halte ich für | |
| eine Zumutung an sich. Ein Gefühl, für das einen derzeit keiner entschädigt | |
| und von dem auch Sascha Lobo mich nicht abbringen kann. | |
| Ich fühle mich allmählich von der Welt beleidigt, aber daraus etwas zu | |
| machen bringt nichts, denn Sibylle Berg gibt es schon. Überhaupt erinnert | |
| der Sommer einen auch immer daran, dass Frauen auf der Welt sind, um mit | |
| ihrem Hintern zu wackeln. Jedes Musikvideo zeigt halbnackte Frauen vor | |
| halbstarken Männern, es wird sich geräkelt und das nennt sich dann meist | |
| „heiß“. Überhaupt wird der Körper kultiviert, es wird gelaufen, was das | |
| Zeug hält, sich gestählt und tätowiert. Bevor ich mich darüber aufrege, | |
| erinnere ich mich daran, dass Fettleibigkeit, die ja inzwischen ungekannte | |
| Ausmaße angenommen hat, die Alternative wäre, und akzeptiere das. | |
| ## Der Uli, ein gestandener Mann | |
| Wo wir schon bei Frauen sind: Ich muss in diesem Sommerloch feststellen, | |
| dass Uli Hoeneß zurückkommt. Mensch, wie ich auf diesen Tag gewartet habe. | |
| Noch so einer, dem nichts etwas anhaben kann. An Frau Hinz von der SPD kann | |
| man gut studieren, was passiert, wenn Frauen, die lügen, führen wollen. | |
| Aber der Uli, der ist ein gestandener Mann – bestimmt so einer, den die | |
| Leute in seinem Verein noch nachts anrufen können, wenn etwas ist. Deswegen | |
| muss er auch in den Vorstand der Aufrechten jetzt, während von Frau Hinz, | |
| die man im Grunde auch nicht verteidigen müsste, bald keiner mehr hören | |
| wird. | |
| Hoeneß ist der Typ Führungsfigur, den die Deutschen zulassen. Hemdsärmelig, | |
| nahbar und steht zu seinen Fehlern. So einen Pep Guardiola – aufrichtig, | |
| elegant und ehrgeizig –, den halten wir nicht aus, auch nicht, wenn er | |
| seine Steuern ordnungsgemäß zahlt. Wir wollen keine Leute, die uns daran | |
| erinnern, dass man ein besserer Mensch sein könnte. Oder zumindest ein | |
| besser aussehender. Oder gar einer mit Zielen. Bei Uli Hoeneß wirkt das ja | |
| nicht wie Ehrgeiz und hochgesteckte Ziele: Typen wie er sind so groß, die | |
| kriegen nur, was ihnen zusteht. | |
| Über die Türkei wollte ich ja eigentlich auch nicht reden. Türken gibt es | |
| derzeit im Süden Europas nicht viele. Auch wenige Flüchtlinge, sind ja alle | |
| in Deutschland, heißt es. | |
| Ich verstehe schon, dass in diesem entspannten Europa, das auch im | |
| Sommerloch nach seinen Aufschreien sucht, die meisten Leute ihre Ruhe | |
| wollen. Um zu leben, wie es ihnen zusteht: smart, verselfiet und | |
| durchtrainiert braun. | |
| Was interessiert mich die Lage der Welt. Wer will sich schon die eigene | |
| Entspannung vermiesen lassen, auf die hat man schließlich extrem | |
| unentspannt hingearbeitet. | |
| 15 Aug 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Jagoda Marinić | |
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