| # taz.de -- Die Wahrheit: Die Stünde Nüll | |
| > Eine Reportage aus der Türkei des Jahres 2026. Endlich wird wieder alles | |
| > besser. Die Folgen des Doppelputsches können vergessen werden. | |
| Wir schreiben das Jahr 2026: Nach dem dramatischen Zusammenbruch des | |
| großtürkischen Imperiums unter Sultan Tayyip I. und seinen Nachfolgern muss | |
| sich das ehemalige Reich am Bosporus neu sortieren – traumatisiert, | |
| schuldbeladen und von den Siegermächten vielfach geteilt. Die | |
| Wahrheit-Reporter melden sich vom Abgrund. | |
| „Wenigstens das Meer ist noch da.“ Ahmad, Rettungsschwimmer in der | |
| deutschen Besatzungszone Almanya an der türkischen Riviera, bemüht sich um | |
| Optimismus. „Und wir haben ja noch Glück gehabt. Deutschland ist reich und | |
| gut organisiert. Ein Segen, dass ihr euer Handtuch als Erste über uns | |
| geworfen habt. Was sollen die Leute in Kirikkale sagen, die jetzt von | |
| Russland verwaltet werden?“ | |
| ## Der berühmte Kaffeespaziergang | |
| Die Älteren erinnern sich: Die Selbstüberschätzung der Türkei und damit ihr | |
| Weg in den Untergang begann mit dem berühmten Kaffeespaziergang von 2024. | |
| Vier Millionen Türken hatten die Balkanroute genommen, um nach Wien zu | |
| gelangen und endlich mal wieder einen anständigen Kaffee zu trinken. Sultan | |
| Tayyip der Bescheidene hatte es zuvor als „Schande für die Ehre der Nation“ | |
| bezeichnet, dass die osmanische Kaffeetradition abgeschnitten und durch den | |
| „anglo-amerikanisch-gülenistischen Labbertee“ ersetzt worden sei. | |
| Das alte Wissen müsse aus Wien zurückgeholt werden. Kurz vor der | |
| Donaumetropole hatte es dann allerdings – wie schon 1529 und 1683 – Streit | |
| darüber gegeben, ob man über die Autobahn oder mit dem Zug in die City | |
| vordringen solle, so dass die Türken erneut unschlüssig vor Wien | |
| herumstanden. Trotzdem deutete die Nato diesen Ausflug als „Bündnisfall | |
| durch Angriff eines verhassten Mitglieds auf ein geschätztes Nichtmitglied“ | |
| und schickte einen Hubschrauber vorbei. Einen griechischen. | |
| Der Rest ist bekannt: Überdehnung des Imperiums durch Kriegserklärung an | |
| alle. Kollaps des Tourismus und damit der Wirtschaft. Abkopplung vom Rest | |
| der Welt durch Rückkehr zum sumerischen Kalender und dem geozentrischen | |
| Weltbild. Allgemeiner Zusammenbruch. | |
| Nun also Stünde Nüll. Neuanfang. Die ersten 900.000 Erdoğan-Statuen wurden | |
| bereits zu 3er-BMWs umgeschmolzen. Und auch sonst wird aufgeräumt mit dem | |
| Wahn der dunklen Jahre: Ein traditionsreicher europäischer Stadtteil von | |
| Istanbul darf wieder Beşiktaş heißen – nachdem er während der Zeit der | |
| Sultane in Unbeşiktaş umgetauft worden war. Der Fußballclub des Stadtteils | |
| hat allerdings bei der Uefa beantragt, künftig | |
| „Wenigstensmanchmalunentschiedenas Istanbul“ zu heißen. Stürmer Mario Gom… | |
| (41), der den Club 2016 aus Protest verlassen hatte, erwägt eine Rückkehr. | |
| Auch andere Städte erhalten allmählich ihre alten Namen zurück: Die Stadt | |
| „Egal“, die unter den Sultanen in ein großes humanitäres Camp für | |
| Regimegegner umgewandelt worden war, heißt für zwei Jahre übergangsweise | |
| Izmir-Egal, danach wieder Izmir, so dass die dort traditionell | |
| hergestellten Lammfleischprodukte wieder „Izmir-Wurst“ heißen können. Die | |
| Schwarzmeerstädte Law-and-Ordu, Pütingrad und Schnurrbartin heißen bereits | |
| wieder Ordu, Trabzon und Bartın. | |
| Viel Hoffnung auf Bildungstouristen, aber auch auf Pferdefreunde hegt | |
| übrigens der neue Kleinstaat Troja, dessen Hauptstadt selbstverständlich | |
| Paris heißt. Und die alpine Republik Araratli, in der man ein | |
| pittoresk-raues Kindertürkisch spricht, setzt ganz auf Neutralität, die | |
| Ührli-Indüstrie und eine direkte Demokratie (Referendüm). | |
| Spannung herrscht in der als Ganzes privatisierten Industrieregion um | |
| Bursa. Der neue Mehrheitsaktionär Marc Zuckerberg überlegt noch, ob er ihr | |
| den Namen Facebük gibt oder sie – Gazprüm – an die Russen weiterverkauft. | |
| Oder machen die Chinesen das Rennen und holen den größten Konkurrenten beim | |
| Markenklamottenfälschen heim ins Reich der Mitte? „Gücci“, sagt Samara (2… | |
| mit glänzenden Augen. „So soll meine Heimat künftig heißen.“ | |
| ## Das bewährte Umerziehungslager | |
| Und was ist mit den vielen Soldaten? Ein alter türkischer Aberglaube | |
| besagt, dass sich das Geschlecht ändert, wenn man unter einem Regenbogen | |
| durchgeht. Und so kommen alle Krieger in das Umerziehungslager „Unter dem | |
| Regenbogen“ in der Provinz Elâzığ – hier sollen sie einen elastischen | |
| Umgang mit ihrer geschlechtlichen Identität einüben. | |
| Immer noch ambivalent ist das Urteil der Bürger über Sultan Tayyip I. „Das | |
| mit den Kurden hätte er nicht machen sollen – aber er hat immerhin die | |
| 6.000 Flughäfen gebaut“, murmelt ein älterer Herr. „Und außerdem hatte er | |
| den Internationalen Gaddafi-Preis für Menschenrechte“ fügt eine resolute | |
| Dame trotzig hinzu. | |
| Der ehemalige Sultan, einst bester Radfahrer und Schachspieler aller | |
| Zeiten, starb bekanntlich 2018 mit freiem Oberkörper bei dem Versuch, zu | |
| beweisen, dass er stärker als eine Atombombenexplosion sei. Angestiftet zu | |
| der Wette hatte ihn dem Vernehmen nach übrigens Zar Wladimir. | |
| 26 Jul 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Oliver Domzalski | |
| Andreas Czech | |
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