# taz.de -- Hoffest im Schokoladen in Berlin-Mitte: Das Zappeln der Rocker und … | |
> In der Ackerstraße wird am Freitag „26 Jahre Schokoladen“ gefeiert. Die | |
> passende Band zum unrunden Geburtstag sind Guts Pie Earshot. | |
Bild: Hat die Gentrifizierung in Mitte überlebt: der Schokoladen in der Ackers… | |
Würde man ein Berliner Subkulturdrama mit dem Titel „Was von Mitte übrig | |
blieb“ drehen wollen, wäre der Schokoladen in der Ackerstraße die perfekte | |
Kulisse dafür. Anfang der Neunziger war die Gegend rund um die Torstraße | |
eine Besetzerhochburg. Heute mehr oder weniger vergessene Kulturprojekte | |
wie das Tacheles (2012 geräumt), IM Eimer (2003 endgültig geräumt) oder das | |
Wydoks in der Schönhauser Allee entstanden in dieser Zeit. | |
Überlebt hat von alldem nicht viel, die schmuddelig-kohlige, grün | |
überwucherte Hausfassade des Schokoladens steht, abgesehen von wenigen | |
anderen Hausprojekten und Bars, solitär als Relikt aus dieser Zeit da. Das | |
Kultur- und Wohnprojekt, in dem fast täglich Veranstaltungen stattfinden, | |
gibt es seit 1990. Nach der Rettung im Jahr 2012 ist der Erhalt inzwischen | |
gesichert: Man erhielt für das Haus einen üppigen Erbpachtvertrag über 99 | |
Jahre. | |
Das heißt auch: Noch knapp ein Jahrhundert legendäre Hofpartys im Sommer! | |
Mitte Juli, darauf war in den vergangenen Jahren Verlass, gab es während | |
des Sommerfests hochkarätige Konzerte, gute und günstige Cocktails, laue | |
und lange Tanznächte. Vom morgigen Freitag an lädt man erneut zu diesem | |
Klassentreffen der Berliner Subkultur – und feiert „26 Jahre Schokoladen“. | |
Drei Tage und drei Nächte lang gibt es dann Konzerte, Kabarett, Theater und | |
DJ-Sets. | |
Mit Guts Pie Earshot hat man diesmal eine Band zu Gast, die sich gut in | |
dieses Setting fügt. Heute nur noch aus dem Duo Patrick Cybinski und Jean | |
Jacobi bestehend, hat sich die Band 1991 in der Hausbesetzer- und | |
Wagenburgszene Kölns gegründet, zunächst unter dem Namen Flowerhouse (ab | |
1993 benannte man sich dann nach Torten, Eingeweiden und einem Schuss ins | |
Ohr). Etwa 1.000 Auftritte später dürfte die vor allem auf Cello-, | |
Drumspiel und Effekten basierende Band wohl nahezu jeden Bauwagenplatz, | |
jeden Squat, jedes Jugendzentrum und jede vegane VoKü des Kontinents zu | |
Gesicht bekommen haben. | |
Besonders ist an Guts Pie Earshot, dass sie dabei im Gegensatz zu vielen | |
anderen Gruppen nicht im Szenemief eingegangen sind. Im Gegenteil, man hat | |
sich auch in anderen Kontexten bewegt, hat etwa am Theater Bielefeld bei | |
mehreren Produktionen mitgewirkt (aktuell Jack Londons „Der Seewolf“). | |
Cybinski hat bei den Bielefelder Philharmonikern und bei vielen anderen | |
klassischen Ensembles gespielt. | |
Musikalisch wurde die heute in Berlin lebende Band dabei immer spannender. | |
Klang der Stilmix aus Punk, Metal und lateinamerikanischen Stilen zu Beginn | |
manchmal noch etwas krude, so haben Guts Pie Earshot eine in Deutschland | |
einzigartige Melange aus Dubstep, Breakbeat, Noise/Experimental, Ambient, | |
arabischen Musiken, Neoklassik und Rock geschaffen. Cybinski und Jacobi, | |
heute Mitte/Ende 40, leben zwar von ihrer Musik, waren aber nie großartig | |
darauf aus, „entdeckt“ zu werden. | |
Live ist ihr Sound auch deshalb toll, weil es sowohl rockaffine als auch | |
Clubgänger zum Zappeln bringt. Da Guts Pie Earshot sich immer weiter | |
Richtung Club und Tanzboden bewegten, verzichten sie seit einigen Jahren | |
auf Gesang – die musikalische Vielfalt, auch die Könnerschaft auf ihren | |
Instrumenten bringen sie damit noch mehr zur Geltung. Auf dem Album zum | |
20-jährigen Jubiläum, das vor drei Jahren erschien, kann man diese | |
Entwicklung staunend nachvollziehen: „Amparo Fugaz“ vereint neun zum Teil | |
neu eingespielte Tracks große Instrumentalmusik. | |
Vielleicht sollte man diese Band, die in erster Linie oft als politische | |
Band wahrgenommen wird – zuletzt spielte man sich bei Refugees Welcome- und | |
No-Border-Initiativen den Arsch ab – noch viel mehr auch als tolle Musiker | |
wahrnehmen. Schokoladen und Guts Pie Earshot: Location und Band sind | |
jedenfalls ein gutes Beispiel dafür, dass sich hinter der schnell | |
dahergesagten Phrase „Freiräume erhalten“ oft wertvolle Kulturarbeit | |
verbergen kann. | |
22 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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