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# taz.de -- Reaktionen auf den Brexit: Wut auf unsere Generation
> Rechtspopulisten richten gerade Europa zugrunde. Sie profitieren von der
> Trägheit der nach 1980 Geborenen.
Bild: Sie sollten sich nicht durch Katzenbilder von den wesentlichen Dingen abl…
Wir sind wütend. In einem Europa, in dem wir in kaum zwei Stunden von
Berlin nach London fliegen, in dem die Menschen, die wir lieben, über den
ganzen Kontinent verteilt leben, wo wir nächtelang mit Freunden aus
Spanien, Frankreich, Polen oder Ungarn lachen und trinken und hinterher
kaum mehr wissen, welche Sprache dabei gesprochen wurde – in diesem Europa
fallen die einen zurück in die nationalstaatlichen Antworten des 20.
Jahrhunderts, während die anderen abwarten und ohnehin nicht mehr glauben,
dass ein Referendum mehr als ein Warnschuss ist. Warnschüsse aber flogen
uns in letzter Zeit sehr viele um die Ohren. Wir sind aufgewachsen mit der
Erinnerung an den Fall der Berliner Mauer, mit dem Versprechen, dass
Grenzen zwischen den europäischen Staaten eine Sache der Vergangenheit
sind. Um dieses Versprechen fühlen wir uns betrogen.
Am Tag nach dem Brexit sehen wir in den Social-Media-Kanälen dreierlei:
einen grinsenden Nigel Farage, dessen politischer Narzissmus Großbritannien
über Nacht geschrottet hat; einen betretenen David Cameron, der ein
Referendum für ein hochspekulatives Machtspiel instrumentalisiert hat und
gescheitert ist. Und ich sehe junge Briten, die fassungslos in Handykameras
sprechen und die Älteren fragen: Warum habt ihr unsere Zukunft abgewählt?
Aber warum fragen sie, warum fragen wir erst jetzt?
Cameron trat noch am Tag der Brexit-Entscheidung zurück. Ebenso hätten
Jean-Claude Juncker und Martin Schulz zurücktreten müssen. Sie sind mit der
von ihnen maßgeblich gestalteten EU-Politik in drei relevanten Punkten
gescheitert. Sie haben keine Idee mehr zur EU etablieren können, die über
eine rein ökonomische hinausging, wobei diese Ökonomieerzählung oft mehr
nach Schwarzer Pädagogik als nach Gemeinwohl klang. Sie haben aufgrund
ihrer Kommunikationsmisere, aber auch aufgrund einer erschreckend stabilen
Reformträgheit innerhalb der Institutionen den Glauben an die Legitimation
der EU bei vielen Wählern schwinden lassen. Sie haben last but not least
keine überzeugenden Antworten präsentiert auf die drängenden
gesellschaftlichen Fragen, ob dies die griechische Schuldenkrise, die
steigende Migration oder die zunehmend antidemokratischen Tendenzen, in
einigen der Mitgliedsstaaten wie Polen oder Ungarn sogar mit
Regierungsauftrag, waren.
## Social-Media ist nicht alles
Nicht zuletzt sind wir wütend auch auf uns selbst, auf unsere Generation,
die nach 1980 Geborenen. Dieses Europa, das Europa der offenen Grenzen, ist
unser Europa. Anders als Cameron können wir nicht zurücktreten und die
Verantwortung unseren Nachfolgern überlassen. Unsere Nachfolger sind unsere
Kinder. Diese Kinder werden uns fragen, wo wir waren, als die Populisten
das europäische Projekt zugrunde gerichtet haben. Was werden wir ihnen dann
antworten? Dass wir uns damals nicht erwachsen genug gefühlt haben? Dass
wir zu sehr mit unserer Selbstverwirklichung beschäftigt waren? Dass wir
keine Zeit hatten, weil wir Kätzchenbilder in den sozialen Netzwerken
anschauen mussten?
Sicher, die rechten Populisten schöpfen den Zorn derjenigen ab, die durch
Globalisierung und Digitalisierung abgehängt werden. Sie machen sich die
Ängste derjenigen zunutze, die sich in einer unter dem zunehmenden Druck
beschleunigten Welt nicht mehr zurechtfinden und die sich daher nach
Ordnung und Orientierung sehnen. Aber sie profitieren auch von der Trägheit
unserer Generation. Angesichts des Rechtsrucks, den wir in unseren
Demokratien erleben, reicht es nicht, hier und da einen Artikel in den
Social-Media-Kanälen zu teilen. Es ist unsere Aufgabe, die Verantwortung zu
übernehmen für eine menschenwürdige Politik und eine menschenwürdige
Wirtschaft.
Vor allem ist es an uns, den ängstlichen Narrativen der Rechtspopulisten
eine neue europäische Erzählung entgegenzusetzen. Die Generation vor uns
zeigt gerade, nicht geschlossen, aber doch zu großen Teilen, dass sie es
nicht mehr kann oder nicht mehr will. Ihr Verdienst ist es, die europäische
Einigung nach 1990 vorangetrieben zu haben, doch nun erscheinen sie uns oft
in Selbstgenügsamkeit oder Spott zu verharren. Die Antwort auf die Frage
danach, was Europa im 21. Jahrhundert sein soll, müssen wir uns selbst
geben.
Was wir derzeit um uns herum vor allem wahrnehmen, sind Zynismus und
Populismus, und das eine ist kaum erträglicher als das andere. Wir sind auf
einem guten Weg, die Demokratie durch leichtfertige Instrumentalisierung zu
verramschen, Wohlstand und Gemeinwohl zu verjubeln und die europäische
Zukunft zu renationalisieren. Das ist nicht die Gesellschaft, in der wir
leben wollen, und das sagen wir im Wissen darum, dass wir vor über dreißig
Jahren in eine Weltregion hineingeboren wurden, die wie kaum eine zweite
privilegiert ist oder war mit Chancen für unsere Generation auf Freiheit,
Frieden und Verantwortung. Wie kann es sein, das all das nun auf dem Spiel
steht?
29 Jun 2016
## AUTOREN
Nora Bossong
Aljoscha Brell
Autorin und Autor
## TAGS
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