# taz.de -- Katastrophenzone Türkei: Die große Leere unter blauem Himmel | |
> Die türkischen Strände sind leer: Erst blieben die Russen weg, dann kam | |
> die Terrorangst. Und der türkische Präsident Erdoğan verschreckt den | |
> Rest. | |
Bild: Leere Strände an der türkischen Mittelmeerküste | |
Istanbul taz | Alanya war in der Antike einer der gefürchtetsten | |
Piratenstützpunkte des östlichen Mittelmeers. Die große Bucht bot optimalen | |
Schutz vor den Winden, und Höhlen auf Meeresspiegelhöhe dienten als | |
versteckte Werftanlagen. Die Piratenflotte von heute ist immer noch eine | |
der größten des östlichen Mittelmeeres, dient allerdings nur noch dem | |
touristischen Amüsement. Seit Wochen schon liegt fast die gesamte Flotte | |
vor Anker, und die Seeräuber schlagen bei Backgammon und TV nur noch die | |
Zeit tot. Die Beute ist in diesem Jahr ausgeblieben. Touristen sind im | |
Sommer 2016 an der Promenade in Alanya so selten wie der nahezu | |
ausgerottete Blaue Thunfisch im Meer. | |
Alanya, das beliebteste Ziel deutscher Urlauber an der türkischen Riviera, | |
ist buchstäblich leer. Am berühmten Kleopatrastrand reiht sich eine leere | |
Strandliege an die nächste, die Sonnenschirme werden erst gar nicht | |
aufgestellt. „Ich bin seit 20 Jahren mit meiner Strandbar hier vor Ort“, | |
erzählt ein gut gebräunter gemütlicher älterer Herr, „aber so eine | |
Katastrophe habe ich noch nicht erlebt.“ | |
Gerade hat der Flughafen von Antalya, das wichtigste Tor zur türkischen | |
Riviera, seine Zahlen für Mai/Juni dieses Jahres veröffentlicht: 98 Prozent | |
Rückgang bei russischen Urlaubern, mehr als 50 Prozent bei Deutschen und | |
anderen Westeuropäern. Eine Ladenbesitzerin an der Promenade von Alanya | |
will am liebsten gar nichts sagen. „Sie sehen doch selbst, dass hier kein | |
Mensch ist“, sagt sie verbittert. | |
Von Kemer im Westen bis Alanya im Osten sind die gesamten 200 Kilometer | |
schönsten Sandstrands in diesem Jahr eine touristische Katastrophenzone. | |
Von den 5,2 Millionen russischen Urlaubern, die im letzten Jahr hier die | |
Strände bevölkerten, ist in diesem Jahr so gut wie keiner gekommen. Aber | |
auch die Deutschen, 2015 mit 5,5 Millionen noch die größte Gruppe, machen | |
sich rar. Die Saison ist für den türkischen Tourismus bereits gelaufen, | |
bevor sie richtig begonnen hat. | |
Man merkt das bereits bei der Landung in Antalya. Der von der deutschen | |
Fraport betriebene Flughafen, der in einer normalen Hochsaison von Mitte | |
Juni bis Mitte September oft die Passagierzahlen des Istanbuler | |
Atatürk-Flughafens übertrifft, ist mehr oder weniger leer. Antalya selbst | |
ist zwar geschäftig wie immer, schließlich wohnen knapp 1,5 Millionen | |
Menschen in der Stadt, doch hinter der Fassade wächst die Angst. Denn fast | |
alle hier leben vom Tourismus, und selbst wer nicht direkt in der Branche | |
beschäftigt ist, bekommt die Auswirkungen der Katastrophe zu spüren. | |
## Auf der Expo Antalya fehlen die Besucher | |
Die Krise trifft die Region ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, zu dem die | |
Menschen glaubten, jetzt würde es erst richtig losgehen. Alles war bereit | |
für den großen Ansturm. Die Infrastruktur ist bestens ausgebaut, die | |
Baustellen früherer Jahre fast verschwunden, und die Strände sind so | |
sauber, dass viele die Blaue Flagge als ökologische Auszeichnung führen | |
dürfen. InKaleiçi,der pittoresken, aber früher ziemlich verfallenen | |
osmanischen Altstadt von Antalya, sind die großherrschaftlichen Konake | |
renoviert und in Boutiquehotels umgewandelt worden. Hinter den Mauern | |
verstecken sich lauschige Gärten und Swimmingpools. | |
Gerade in diesem Jahr hatte sich die Region um Antalya besonders viel | |
vorgenommen. Mithilfe der großen internationalen Gartenschau Expo Antalya | |
wollte man die Rekorde der letzten Jahre noch Keine Unterstützung für | |
Beschäftigte im Tourismuseinmal toppen. Jetzt ist diese Expo zum Symbol der | |
Katastrophe geworden. Millionen und Abermillionen wurden in das | |
Prestigeprojekt investiert, sogar eine neue S-Bahn-Strecke vom Zentrum | |
Antalyas bis zur 30 Kilometer außerhalb der Stadt liegenden Expo wurde | |
gebaut, und nun kommt kein Mensch. Zwei junge Frauen aus Solingen, die in | |
Side Urlaub machen und von ihrem Hotel hergebracht wurden, wundern sich, | |
dass so gar nichts los ist. Wo hier die Showräume sind, wollen sie wissen. | |
Die gibt es durchaus, aber sie stehen so verlassen in der grellen Sonne, | |
dass man den Eindruck hat, alles wäre noch geschlossen. Eine aufwendige | |
Multimediashow, angefangen von dem Beginn menschlicher Landwirtschaft in | |
Anatolien bis zu einer futuristischen Zukunft, hat außer dem Reporter keine | |
Besucher. Es sei zu heiß, sagt einer der Angestellten als Entschuldigung. | |
Tatsächlich stöhnt die türkische Mittelmeerküste in der zweiten Junihälfte | |
das erste Mal unter einer Hitzewelle von 40 Grad im Schatten, doch das ist | |
nicht der Grund für die ausbleibenden Besucher. | |
„Hier ist seit der Eröffnung Mitte April nichts los“, sagtAyşe,die im | |
Ausstellungspavillon von Istanbul jobbt. Trotzdem ist sie froh, dass sie | |
bei der Expo wenigstens noch für fünf Monate Arbeit gefunden hat. „Ich | |
hatte eine feste Anstellung in einem der Schmuckbasare, die an der | |
Hauptstraße vom Flughafen ins Zentrum von Antalya stehen. Diese | |
Schmuckbasare richten sich hauptsächlich an eine russische Kundschaft. Eine | |
Woche nach dem Abschuss des russischen Militärjets an der | |
türkisch-syrischen Grenze im letzten November wurde ich zusammen mit fast | |
hundert anderen Verkäuferinnen gefeuert.“ | |
## Keine Unterstützung für Beschäftigte im Tourismus | |
Danach warAyşezunächst sieben Monate arbeitslos. „Mein Arbeitslosengeld“, | |
sagt sie, „reichte gerade einmal für die Miete.“Ayşeist sauer auf die | |
staatliche Krisenpolitik. „Die Hotelbesitzer bekommen vom Staat | |
Überbrückungskredite oder dürfen ihre Schulden später zahlen. Von mir will | |
die Bank jeden Monat Geld sehen.“ So wieAyşegeht es Tausenden von Leuten, | |
die ihren Unterhalt im Tourismus verdienen. Viele von ihnen, die jeweils in | |
der Saison in Hotels oder Clubs gearbeitet haben, brauchten in diesem | |
Sommer gar nicht erst anzutreten, weil Hotel und Club nicht öffneten. | |
Beispielhaft dafür ist Kemer, eine reine Touristenstadt 50 Kilometer | |
westlich von Antalya. Kemer war traditionell fest in russischer Hand. Nicht | |
nur die Gäste, auch viele Hotelbesitzer kommen aus Russland. „Mehr als 60 | |
Prozent aller Hotels“, sagt der Sprecher des Tourismusbüros in Kemer, „sind | |
in diesem Jahr erst gar nicht geöffnet worden.“ Während der Beamte als | |
Grund für die Katastrophe den „Terrorismus“ anführt, weiß in Kemer | |
natürlich jeder, dass die Russen in diesem Jahr bisher aus politischen | |
Gründen nicht gekommen sind. | |
Nachdem PräsidentErdoğanEnde Juni dann doch noch über seinen Schatten | |
gesprungen ist und sich bei Präsident Putin für den Abschuss des russischen | |
Jets entschuldigt hat, keimt nun wieder Hoffnung. Vielleicht würden die | |
Russen jetzt wenigstens noch die zweite Hälfte der Saison retten, hofft man | |
nicht nur in Kemer. Hakan, der in einer Strandbar jobbt, freut sich: „Gut, | |
dassErdoğanden Familien der Kampfpiloten kondoliert hat. Das war richtig“, | |
meint er. | |
Die meisten Gesprächspartner vermeiden es aber, über die politischen | |
Ursachen der leeren Strände zu reden. Sie tun so, als sei das Ganze eine | |
Naturkatastrophe. Allenfalls geben einige selbstkritisch zu bedenken, dass | |
die Touristen von einigen „schwarzen Schafen“ in der Branche in den letzten | |
Jahren doch häufig „über den Tisch“ gezogen worden sind. „30 Euro für … | |
alten Fisch, das geht natürlich nicht“. | |
## AuchErdoğanverdunkelt das Image | |
Die türkische Regierung schiebt in ihren Stellungnahmen alles auf die | |
„Terrorattacken“ der PKK und des „Islamischen Staats“. Doch die meisten | |
Hoteliers wissen genau, dass das bestenfalls ein Teil der Wahrheit ist. | |
„Viele meiner deutschen Kunden sagen“, erzählt ein Hotelier in Antalya, der | |
namentlich nicht genannt werden will, „der Terrorismus sei nicht der Grund, | |
Bomben könnten überall hochgehen. Aber sie wollten nicht mehr | |
imErdoğan-LandUrlaub machen. Was soll ich machen?“, fragt er sich, „ich | |
habeErdoğannicht gewählt und werde nun doppelt bestraft.“ | |
Andere wollen es nicht einfach hinnehmen, dass ihre wirtschaftliche | |
Grundlage sich gerade in nichts auflöst. Ein bekannter Geschäftsmann aus | |
Antalya, Serdar Ali Abet, hat für drei Millionen Euro eine Soap-Opera in | |
Antalya drehen lassen, die jetzt während des Ramadans über TRT El Arabia in | |
den arabischen Ländern ausgestrahlt wurde und damit zur Popularität von | |
Antalya beitragen soll. | |
In Belek, einem Vorort von Antalya, der für seinen Golftourismus berühmt | |
ist, demonstrierten vor zwei Wochen wütende Kleinhändler, Taxifahrer und | |
Restaurantbetreiber, weil sie im Gegensatz zu den großen Hotelketten keine | |
Unterstützung vom Staat bekommen. In Ankara dämmert der Regierung von | |
BinaliYilldirimallmählich, dass sich an den Küsten des Landes ein Sturm | |
zusammenbraut. Gemeinsam mit Vertretern der Branche will man nun ein | |
Aktionsprogramm entwickeln, um vielleicht doch noch etwas zu retten. Stars | |
und Sternchen sollen für Imagefilme engagiert werden, um die positiven | |
Seiten der Türkei wieder stärker in den Vordergrund zu rücken. | |
Den meisten Tourismusexperten ist aber schon klar, dass kein noch so guter | |
Imagefilm etwas nutzt, solange die Politik des Landes kontinuierlich | |
schlechte Nachrichten produziert. Der neuerliche Terroranschlag, dieses Mal | |
am Istanbuler Flughafen, dürfte dem Tourismus für dieses Jahr den Rest | |
gegeben haben. Die Hoteliers hoffen nun auf inländische Besucher. Auf Druck | |
der Branche hat die Regierung die traditionellen Bayram-Feiertage am Ende | |
des Fastenmonats Ramadan in diesem Jahr auf neun Tage verlängert, in der | |
Hoffnung, dass dann viele Türken die Gelegenheit nutzen, um ans Meer zu | |
fahren. | |
Doch auch das wird die Tourismusbranche nicht retten.Ayşe,die | |
Schmuckverkäuferin die jetzt auf der Expo jobbt, hat gehört, dass die | |
internationalen Hotels frühestens 2018 wieder auf einen Anstieg der Zahlen | |
hoffen. Sie hofft, dass es sich einige Deutsche vielleicht im letzten | |
Moment doch noch überlegen: „Noch nie war der Service hier so gut und waren | |
die Preise so günstig wie heute.“ | |
9 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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