| # taz.de -- Haydn-Reset in Schleswig-Holstein: Schlauer Provokateur | |
| > Mit seinem Haydn-Schwerpunkt tut das Schleswig-Holstein Musik Festival | |
| > einen guten Griff. Es gibt diesem so intellektuellen wie humorvollen | |
| > Komponisten seine Würde zurück | |
| Bild: Galt zu Unrecht als spröde: Joseph Haydn | |
| Joseph Haydn? Bestenfalls zum Warmspielen. Zur Einstimmung auf das | |
| Wesentliche: Mozart, Beethoven – jene Wiener Klassiker, die wir so genial | |
| finden. Ein ganzer Mozart-Abend? Kein Problem, hoch erfreut. Aber Haydn? | |
| Nein, da wird uns fad zumut, da wollen wir das (Mozart’sche) Original | |
| hören, nicht die schlaffe Kopie. Was schon historisch nicht stimmt, denn | |
| Mozart war jünger als Haydn. Aber trotzdem, insistieren wir: Haydn war so | |
| schlicht und altväterlich. Sogar Robert Schumann hat ihn als vertraut-öden | |
| „Hausfreund“ bezeichnet. | |
| Alles Klischees, sagen die Gelehrten und Christian Kuhnt, Chef des | |
| Schleswig-Holstein Musik Festivals (SHMF), das Haydn diesmal zum | |
| Komponistenschwerpunkt erkor. Wenn Haydns Musiker und sein Freund Mozart | |
| ihn „Papa“ nannten, meinten sie es respektvoll und nicht herablassend. | |
| ## Gedankenlos vernachlässigt | |
| Geändert hat sich das schleichend. Vielleicht waren anfangs Neider am Werk; | |
| jedenfalls weiß heute kein Mensch mehr, wie sein Image so kippen konnte: | |
| Haydn, zu Lebzeiten europaweit gefeiert – und heute nur noch in | |
| Großbritannien ein Star. Sogar eine antarktische Bucht haben die Briten | |
| nach ihm benannt, das „Haydn Inlet“. | |
| Wie konnte es zu dieser Vernachlässigung kommen? Durch eifriges Werkeln | |
| geschäftstüchtiger Mozart-Lobbyisten? „Nein“, sagt Otto Biba, | |
| Archiv-Direktor der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde, der beim SHMF | |
| über die Haydn-Rezeption sprechen wird. „Das ist wohl eher aus | |
| Gedankenlosigkeit passiert.“ | |
| Damit soll es jetzt vorbei sein: Über 100 Konzerte wird das SHMF dem | |
| Komponisten widmen, der 1809 mit 77 Jahren starb. Prominente Musiker wie | |
| András Schiff, Isabelle Faust und Alison Balsom werden Werke aller | |
| Gattungen und Phasen spielen – von der Sinfonie übers Oratorium bis zu | |
| Klaviertrio, Streichquartett und Lied. Über 100 Sinfonien hat Haydn | |
| geschrieben, dazu 14 Messen und Oratorien, unter anderem die „Schöpfung“, | |
| eins der wenigen oft gespielten Werke. | |
| So viel zur Quantität. Aber stimmt es, dass Haydn die Gattungen Sinfonie, | |
| Sonate, Lied erfand? Dass er die Instrumente des Streichquartetts erstmals | |
| gleichberechtigt einsetzte? „Ja, das stimmt alles“, sagt Biba. „Auch wenn | |
| ich eher von Verfeinern als vom Erfinden spreche würde.“ Und das Neue an | |
| Haydn vermittele sich deshalb so schwer, „weil er ein sehr intellektueller | |
| Komponist war.“ Einer, der die bestehenden Kompositionsregeln kannte und | |
| bewusst brach. Überraschende Tonarten und Klangfarben hineinbrachte, der | |
| Sinfonie erstmals eine klare, bis heute verbindliche Struktur gab. | |
| Überraschende Tonarten? Aber wer hat das verstanden damals im Konzert, wo | |
| nebenbei geplaudert wurde? „Die Konzertbesucher von damals – und das waren | |
| nicht nur Adlige, sondern musizierende Bürger und Handwerker, die in teils | |
| kostenlose öffentliche Konzerte gingen – waren musikalisch hochgebildet“, | |
| sagt Biba. „Sie beherrschten die musikalische Grammatik, erkannten Tonarten | |
| und wussten, welche standardmäßig aufeinander folgten.“ Wenn Haydn diese | |
| Hörgewohnheiten positiv enttäuschte und durchbrach, habe es „durchaus mal | |
| den Saal gerissen“. | |
| Wobei solche Überraschungs-Effekte auch der PR dienten: Sicher, Haydn war | |
| knapp 30 Jahre lang hochdotierter Kapellmeister am Hof des österreichischen | |
| Fürsten Esterházy, schrieb für ihn und Verleger, konnte viele Werke sogar | |
| zweifach verwerten. Und er hat, wie Mozart, immer auf das Publikum hin | |
| geschrieben, an Verkäuflichkeit gedacht. Trotzdem trieb ihn der Ehrgeiz, | |
| den Markt zu überraschen und Neues zu wagen. | |
| Am besten kann man diese Special Effects an seinen berühmten „Scherzen“ | |
| dingfest machen, die stets beides sind, kompositorischer Kniff und Kampf | |
| ums Publikum: Ein plötzlicher „Paukenschlag“ in der gleichnamigen Sinfonie, | |
| bei dem man ertappt zusammenzuckt. Oder eine abrupte Pause, in die man | |
| versehentlich laut hineinschwatzt wie in „4’33“ von John Cage. Dann wieder | |
| ein Fagott, dass laut und vernehmlich einen schnarrenden, „fast | |
| unanständigen“ Ton fahren lässt, wie Haydn-Forscher Ludwig Finscher es | |
| nennt. „Das waren Dinge, die kein anderer wagte.“ | |
| Und deren intelligenter Humor Musikinteressenten aller Schichten bediente. | |
| Denn Haydn kam selbst aus einer Wagenmacher-Familie und hatte sich langsam | |
| hochgearbeitet. Die Affinität zum einfacheren Volk war ihm also biografisch | |
| inhärent – auch wenn ihn wegen seiner Privilegien wohl keine Gewissensbisse | |
| quälten. | |
| Allerdings, sagt Biba, habe Haydn bei seinen beiden umjubelten | |
| England-Aufenthalten durchaus geschätzt, dass dort, anders als auf dem | |
| Kontinent, Adel und Bürger gemeinsam im Konzert saßen und das Musikleben | |
| eher bürgerschaftlich als mäzenatisch organisiert war. Und kompositorisch | |
| sei Haydn ohnehin ein Mann der Aufklärung gewesen: Das akribische | |
| Vergrößern, Verkleinern, Durchleuchten und Zerlegen eines Motivs war seine | |
| Spezialität – eine so naturwissenschaftliche wie rational-philosophische | |
| Methode. Und so intellektuell fordernd wie heute die Zwölftöner. | |
| Hinderlich für die Haydn-Rezeption außerdem: Heute bewerten wir Haydn nicht | |
| anhand seiner Vorgänger, sondern aufgrund derer, die nach ihm kamen und | |
| seine Erfindungen verwerteten. Deren Fundament blenden wir aus. | |
| Dieser Zugang ist nicht redlich und verstellt die Sicht auf Haydns | |
| Neuerungen. Denn auch wenn das Haydn-Gedenkjahr 2009 Aufmerksamkeit schuf: | |
| Immer noch setzen Orchester Haydn furchtsam an den Anfang eines Konzerts, | |
| damit das Publikum nicht gehen kann. | |
| ## Auf und Ab der Rezeption | |
| Dieses Auf und Ab der Haydn-Rezeption findet eine makabere Parallele im | |
| Schicksal seines Totenschädels. Den hatte Esterházy-Sekretär Josef Carl | |
| Rosenbaum heimlich entwendet – was auffiel, als Haydn in die | |
| Esterházy-Gruft überführt werden sollte. | |
| Die zugehörige Geschichte ist so aufklärerisch wie profan: Der Wiener Arzt | |
| Franz Joseph Gall verbreitete damals, dass man von der Hirnform auf die | |
| Begabung eines Menschen schließen könne. Dafür exhumierte er illegal Tote | |
| und hielt auch seine Anhänger dazu an. Rosenbaum war so einer. Lebenslang | |
| hielt er den Haydn-Schädel versteckt und vermachte ihn dann dem | |
| anatomischen Institut der Universität Wien. | |
| Dort lag er, bis man ihn 1895 zur „heiligen“ Reliquie erklärte und in die | |
| Gesellschaft der Musikfreunde brachte. Erst 1954 kam der Kopf, nach | |
| ausführlichen Vergleichen mit Haydns Totenmaske, zurück ins Grab. | |
| Physisch ist Haydn seither im Lot. Seine Rezeption ist es nicht – auch, | |
| weil es immer noch keine Gesamtausgabe gibt. Das damit betraute Kölner | |
| Haydn-Institut hat zwar schon zwei Drittel von insgesamt 111 geplanten | |
| Bänden vorgelegt. Da viele Haydn-Werke aber nur als Abschriften existieren, | |
| muss man jede einzelne auf Authentizität prüfen. Und das dauert. | |
| 1 Jul 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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