# taz.de -- Missbrauchsopfer oft allein gelassen: Leider nur den AB erreicht | |
> Von sexuellem Missbrauch sind mehr Menschen betroffen als von | |
> Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die Beratungsstellen können nur wenige | |
> begleiten | |
Bild: Finden immer noch zu selten Gehör: Opfer sexuellen Missbrauchs. | |
Einen Rechtsanspruch auf Beratung für Opfer sexualisierter Gewalt fordert | |
die Landesfrauenbeauftragte Ulrike Hauffe. Nur auf diese Weise könnten | |
Beratungsstellen ein umfassendes Angebot machen für alle, die bei ihnen | |
Hilfe suchen. „Solange wir immer nur so viele Leute finanzieren, die die | |
akuten Fälle abarbeiten können, bleibt alles auf der Strecke, was darüber | |
hinaus geht“, sagte Hauffe am Montag Abend bei einer Diskussionsrunde der | |
SPD-Fraktion im Haus der Bürgerschaft zu Hilfsangebote bei sexualisierter | |
Gewalt. | |
Vor Hauffe hatten MitarbeiterInnen von Schattenriss und dem Bremer | |
Jungenbüro ihre Arbeit geschildert. Rund 300 Mädchen hat Schattenriss im | |
Jahr 2015 begleitet, berichtete Sandra Reith, die seit 2008 als Psychologin | |
bei dem Verein arbeitet. Durch die Online-Beratung, die es seit 2011 gibt, | |
würden sich deutlich jüngere Kinder bei ihnen melden und auch solche, die | |
sich noch in Gewaltsituationen befinden. Zunehmend seien auch Fälle | |
darunter, bei denen es sich um organisierte oder rituelle sexualisierte | |
Gewalt handele, sagte Reith. | |
Einen großen Teil der Arbeit von Schattenriss macht die Fortbildung von | |
Fachkräften aus. Allerdings, das wurde in den Redebeiträgen aus dem | |
Publikum deutlich, ist es auch in Bremen immer noch Glückssache, ob ein | |
Erzieher oder eine Lehrerin Missbrauchs-Anzeichen im Verhalten eines Kindes | |
erkennt – und dann auch richtig, das heißt nicht überstürzt und im Sinne | |
des Kindes, handele. | |
Doch auch Schattenriss muss Einschränkungen machen. „Wir können Frauen, die | |
als Kind sexuell missbraucht wurden und jetzt darunter leiden und Hilfe | |
brauchen, leider kein Angebot machen“, sagte Reith. Diese müssten auf | |
Psychotherapieplätze warten – häufig monatelang. | |
Ein Ausweg könne der Antrag auf Geld aus dem Opferfonds der Bundesregierung | |
sein, um private Therapien zu bezahlen. Die Frist sei hier noch einmal | |
verlängert worden, sagte Reith. Schattenriss und Jungenbüro helfen bei der | |
Antragstellung. Allerdings beträgt die Bearbeitungsfrist, wenn es sich um | |
eine Tat in der Familie gehandelt hat, laut Homepage des Fonds mehrere | |
Monate. | |
Ein anderes Problem sei die schlechte Erreichbarkeit, sagte Reith. Zweimal | |
in der Woche gibt es bei Schattenriss eine zweistündige Telefonsprechzeit, | |
in der ein Termin zum persönlichen Gespräch vereinbart werden kann. In den | |
anderen Stunden läuft der Anrufbeantworter. | |
Selbst wenn darauf ein zeitnaher Rückruf versprochen wird – viele würden | |
davon abgeschreckt, berichtete die Soziologin Barbara Kavemann. Kavemann | |
forscht am Sozialwissenschaftlichen Frauen-Forschungs-Institut Freiburg und | |
als Honorarprofessorin an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen | |
Berlin zu dem Thema und ist Mitglied der von der Bundesregierung | |
eingesetzten unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen | |
Missbrauchs in Deutschland. Für ihre Studien hat sie mit vielen | |
Missbrauchs-Opfern geredet. „Wir wissen aus Interviews, dass die meisten | |
Betroffenen sehr lange brauchen, bevor sie Hilfe suchen. Wenn sie den | |
Schritt dann endlich gegangen sind, ist es extrem frustrierend, nur einen | |
Anrufbeantworter zu erreichen.“ | |
Ähnlich sieht es beim Bremer Jungenbüro aus, das im Jahr 250 Jungen und | |
junge Männer bis 27 begleitet, 100 von ihnen haben sexualisierte Gewalt | |
erlebt. „Wir kommen derzeit an unsere Grenze“, sagte Volker Mörchen, der | |
das Bremer Jungenbüro 2007 als Beratungsstelle mitgründete. Der Grund seien | |
die vielen Anfragen wegen junger Männer, die nach Bremen geflüchtet sind | |
und in ihren Herkunftsländern, auf der Flucht oder in Bremen in ihren | |
Unterkünften sexuell missbraucht worden sind. Seit März bietet das | |
Jungenbüro in einem von der Stiftung Aktion Mensch finanzierten Projekt | |
Beratung und Aufklärung für Betroffene und Fachkräfte an. „Im Grunde haben | |
fast alle etwas erlebt“, sagt Mörchen. Bei vielen äußere sich dies in | |
Drogen- und Alkohlkonsum oder gewalttätigem Verhalten. | |
Denselben hohen Betroffenheitsgrad nimmt Sandra Reith für geflüchtete | |
Frauen und Mädchen an. „Eigentlich müsste es eine Beratung direkt vor Ort | |
in den Unterkünften geben“, sagt Reith. Auf diese Weise wäre auch | |
sichergestellt, dass die Betroffenen wüssten, wo sie sich Hilfe holen | |
können, wenn sie in eine eigene Wohnung gezogen sind und das Leid zu groß | |
wird. „In der ersten Zeit sind die meisten Menschen mit Anderem | |
beschäftigt, da geht es um das Überleben und Ankommen, um den | |
Aufenthaltsstatuts und den Umzug aus den Massenunterkünften.“ | |
Aber auch Kinder ohne Fluchthintergrund sind gefährdet. Von sexuellem | |
Missbrauch seien in Deutschland mit einer Million Personen – Mädchen | |
häufiger als Jungen – mehr Menschen betroffen als von Diabetes oder | |
Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sagte die Wissenschaftlerin Kavemann. Und: | |
Frauen mit geistigen oder psychischen Beeinträchtigungen haben in Kindheit | |
und Jugend ein zwei bis drei Mal so großes Risiko zu Opfern sexualisierter | |
Gewalt gemacht zu werden. | |
Die Landesfrauenbeauftragte fordert, dass die finanzielle Ausstattung der | |
Beratungsstellen sich an diesen Zahlen orientiert. | |
2 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
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