| # taz.de -- Aufklärung und Prävention: „Wie Steine im Bauch“ | |
| > Anke Fürste von der Bremer Beratungsstelle „Schattenriss“ über die Folg… | |
| > sexuellen Missbrauchs und der Abwägung zwischen Aufklärung und | |
| > Retraumatisierung. | |
| Bild: Das Internet vergisst nichts – auch nicht Fotos von Missbrauchsopfern. | |
| taz: Frau Fürste, das Bundeskriminalamt hat in den vergangenen Tagen mit | |
| Hilfe von Fotos in den sozialen Medien nach einem vierjährigen Mädchen | |
| gefahndet, das mutmaßlich sexuell missbraucht wurde. Was halten Sie von | |
| diesem Vorgehen? | |
| Anke Fürste: Ein solches Vorgehen muss gut abgewogen werden. Im Falle des | |
| vierjährigen Mädchens wurde lange überlegt, welche Maßnahmen ergriffen | |
| werden müssen, um das Kind aus der akuten Gefahrensituation zu befreien. | |
| Natürlich ist es nicht gut, die Privatsphäre des Mädchens zu beschneiden, | |
| indem man Fotos von ihr online stellt und dadurch die Gefahr der | |
| Retraumatisierung des Opfers in Kauf nimmt. In diesem Fall erachte ich es | |
| jedoch für einen notwendigen Schritt, um die akute Gewalt zu beenden und | |
| sie in Sicherheit zu bringen. | |
| Was passiert bei einer Retraumatisierung? | |
| Ein Trauma ist erst mal eine Verletzung der Seele, die in | |
| lebensbedrohlichen Situationen entstehen kann. Menschen zeigen bei Gefahr | |
| und Todesangst unterschiedliche Überlebensstrategien. Viele reagieren, wie | |
| im Tierreich, mit Kampf oder Flucht. Wenn diese Optionen, wie oft im Fall | |
| von sexuellem Missbrauch, nicht zur Wahl stehen, erfolgt häufig ein | |
| Erstarren. Die Erstarrung soll vor der Reizüberflutung durch die Eindrücke | |
| des Schrecklichen schützen. | |
| Wie äußert sich das? | |
| Das Gehirn spaltet das Geschehen um einen herum ab und entfremdet von dem | |
| Erleben. Betroffene haben dann das Gefühl, nicht sie selbst zu sein, alles | |
| von außen zu betrachten und sich nicht bewegen zu können. Bestimmte Teile | |
| des Gehirns, die ansonsten miteinander arbeiten, können nicht mehr | |
| verknüpft werden. Deshalb können viele Opfer während des Tatvorgangs | |
| beispielsweise nicht mehr planvoll denken oder nicht mehr sprechen. Die | |
| verschiedenen Eindrücke zersplittern und die Erfahrungen können nicht mehr | |
| als ein zusammenhängendes Ereignis erinnert werden. Bei einer | |
| Retraumatisierung werden traumatisierte Menschen in einer neuen Situation | |
| durch Schlüsselreize in den beschriebenen traumatischen Zustand | |
| zurückversetzt. | |
| Welche Schlüsselreize können das sein? | |
| Auslösende Reize sind zum Beispiel Gerüche, Geräusche, Stimmen, | |
| Gegenstände, Orte sowie Empfindungen von Angst, Hilflosigkeit und | |
| Ausgeliefertsein, die mit dem Trauma verbunden werden. Es fühlt sich für | |
| Betroffene so an, als würde das Schreckliche in dem Moment wieder | |
| passieren. Dies kann auch geschehen, wenn das eigentliche Trauma Jahre her | |
| ist. Und durch ein wiederholtes Auslösen der Gefühle werden die Folgen von | |
| Traumatisierung verstärkt. | |
| Es wird nicht möglich sein, alle Fotos des Opfers aus dem Netz zu löschen. | |
| Wird dadurch nicht die Gefahr der Retraumatiserung erhöht? | |
| Jeder Mensch hat individuell verschiedene Fähigkeiten und | |
| Selbstheilungskräfte, ein Trauma zu verarbeiten. Wenn einem Kind nach | |
| sexueller Misshandlung ein engmaschiges Netz an Hilfe und Unterstützung | |
| geboten wird, kann es lernen, mit dem Erlebten umzugehen und die Gefahr der | |
| Retraumatisierung wird geringer. Dafür muss das Umfeld des betroffenen | |
| Kindes sensibilisiert werden. Wenn es jedoch zu Anschuldigungen oder | |
| Stigmatisierung des Opfers kommt, wird es schwerer, das Erlebte zu | |
| verarbeiten. | |
| Lässt sich die Gefahr der Retraumatisierung und der akute Opferschutz | |
| überhaupt gegeneinander abwägen? Was erachten Sie als wichtiger? | |
| Im Fall des vierjährigen Mädchens war es wichtig, der akuten | |
| Gefahrensituation ein Ende zu setzen. Auch wenn nun Fotos von ihr im | |
| Internet kursieren, war es von größter Relevanz, ihr so schnell wie möglich | |
| Hilfe zukommen zu lassen. Nun besteht für das Kind die Möglichkeit, das | |
| Erlebte therapeutisch zu verarbeiten. Wäre der sexuelle Missbrauch | |
| fortgesetzt worden, hätte dies womöglich noch schlimmerer Folgen bedeutet. | |
| Die wichtigste Frage ist nun, wie man dem Kind helfen kann, das Geschehene | |
| zu verarbeiten, und es vor weiteren Gefahren schützt. | |
| Wie geht man bei der therapeutischen Aufarbeitung vor? | |
| In unserer Beratungsstelle möchten wir Kindern und Jugendlichen einen Raum | |
| bieten, über das Geschehene zu sprechen. Wichtig dabei ist, dass Kinder | |
| lernen, ihre Gefühle überhaupt benennen zu können. Ein wichtiger Faktor ist | |
| das Unterscheiden zwischen guten und schlechten Geheimnissen. Wenn ein Kind | |
| sexuell missbraucht wurde und es sich jemandem anvertraut, ist es keine | |
| Petze. Sehr viele Kinder haben große Angst davor. Ein solches Geheimnis mit | |
| sich herumzutragen, fühlt sich an wie Steine im Bauch. Wenn ich | |
| missbrauchten Kindern von dieser Assoziation erzähle, wissen viele genau, | |
| wovon ich spreche. | |
| Bei der Fahndung über Facebook werden häufig emotionale Debatten | |
| angestoßen. Die einen fordern die Todesstrafe für Kinderschänder, andere | |
| zweifeln die Glaubwürdigkeit des Opfers an. Wie wirken sich solche Debatten | |
| auf die Opfer sexueller Misshandlung aus? | |
| Viele Opfer scheuen die Konfrontation mit solchen Debatten, denn es kann | |
| sich negativ auf die Verarbeitung des Erlebten auswirken. Viele haben das | |
| Gefühl, sich immer wieder erklären zu müssen. Besonders schlimm ist es für | |
| die Betroffenen, wenn ihre Glaubwürdigkeit angezweifelt wird und | |
| Schuldzuweisungen in ihre Richtung geschehen. Denn das wirkt aus unserer | |
| Erfahrung auch sehr retraumatisierend. In den Medien kommt es öfter vor, | |
| dass über andere Fälle sexuellen Missbrauchs durch Interviews mit | |
| Betroffenen berichtet wird, bei denen der Tatvorgang detailliert | |
| beschrieben und sogar Fotos veröffentlicht werden. Dass sich so eine | |
| detaillierte Befragung und öffentliche Diskussion über die vermeintliche | |
| Mitschuld auf die Opfer ebenso traumatisierend auswirken kann, wurde meiner | |
| Meinung nach in den Medien noch viel zu wenig reflektiert. | |
| Wie hoch schätzen Sie die Stigmatisierung von Opfern sexuellem Missbrauchs | |
| ein? | |
| Die Gefahr der Stigmatisierung ist sehr groß. Sexueller Missbrauch ist ein | |
| Thema, das mit Scham besetzt ist, und viele Betroffene trauen sich lange | |
| Zeit nicht, über das Geschehene zu sprechen. Die Angst vor Stigmatisierung | |
| durch den eigenen Familienkreis ist dabei häufig am größten. Gerade Kinder, | |
| die durch ein Familienmitglied sexuell missbraucht werden, haben das | |
| Gefühl, Schuld an dem Geschehenen und den Folgen wie beispielsweise der | |
| Trennung der Eltern zu sein. | |
| Wie kann Stigmatisierung verhindert werden? | |
| Es ist wichtig, mit den Mythen über sexualisierte Gewalt aufzuräumen. | |
| Aussagen wie: Das Opfer ist selber Schuld, weil sie einen kurzen Rock | |
| anhatte oder mit dem Bekannten freiwillig mitgegangen sei, entledigen die | |
| TäterInnen von ihrer Verantwortung für das übergriffige Verhalten | |
| Wie gehen Personen am besten damit um, wenn sich ihnen jemand anvertraut, | |
| der sexuell misshandelt wurde? | |
| In solchen Fällen ist es immer wichtig, sich Hilfe zu holen. In unserer | |
| Beratungsstelle kümmern wir uns nicht nur um Mädchen und Frauen, die von | |
| sexuellem Missbrauch betroffen sind, sondern auch um unterstützende | |
| Angehörige und Bezugspersonen, für die eine solche Situation ebenfalls sehr | |
| belastend ist. | |
| 15 Oct 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Paula Högermeyer | |
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