| # taz.de -- Sichere Herkunftsstaaten: Die Tücken des Rechtsstaates | |
| > Die Regierung ignoriert mit ihrem Gesetz Vorgaben des | |
| > Verfassungsgerichts, sagen Flüchtlingsexperten. Doch der Weg nach | |
| > Karlsruhe ist verbaut. | |
| Bild: Große Einigkeit: Die Kanzlerin und der Innenminister stimmen im Bundesta… | |
| Berlin taz | Das Szenario klingt absurd, könnte aber schon bald | |
| Wirklichkeit werden. Die Bundesregierung beschließt ein Gesetz, von dem | |
| Menschenrechtsexperten vermuten, dass es verfassungswidrig ist. Aber es | |
| bleibt trotzdem in Kraft, weil niemand dagegen vor dem Verfassungsgericht | |
| klagt. | |
| Die Koalition hat im Bundestag vor einer Woche beschlossen, Algerien, | |
| Tunesien und Marokko für „sicher“ zu erklären, um Asylbewerber aus diesen | |
| Staaten schneller abschieben zu können. Experten von Grünen und | |
| Linkspartei, Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl und Fachanwälte | |
| behaupten, dass dieses Gesetz der Rechtssprechung von Karlsruhe und dem | |
| EU-Recht nicht genügt. | |
| Doch diese Kritik könnte folgenlos verpuffen. Denn die Wege, die nach | |
| Karlsruhe führen, sind verbaut – oder sehr schwer zu beschreiten. Ein | |
| höchstrichterliche Prüfung wird zu diesem Gesetz vielleicht nie | |
| stattfinden. Wie kann das passieren? | |
| „Keines der Länder erfüllt die Voraussetzungen nach Verfassungs- und | |
| Unionsrecht, um durch den Gesetzgeber zu „sicheren Herkunftsstaaten“ | |
| bestimmt werden zu können“, sagt der Frankfurter Rechtsanwalt Reinhard | |
| Marx, der sich auf Asylrecht spezialisiert hat. Ulla Jelpke, | |
| Flüchtlingsexpertin der Linke-Fraktion, sagt: „Die Bundesregierung hält die | |
| höchstrichterlichen Vorgaben nicht ein. Sie ignoriert sie sogar eiskalt.“ | |
| ## „Das Gesetz ist ein Dammbruch“ | |
| Auch Pro Asyl argumentiert ähnlich. „Dieses Gesetz wäre ein Dammbruch“, | |
| sagt Geschäftsführer Günter Burkhardt. In Algerien, Tunesien und Marokko | |
| herrsche staatliche Repression, Minderheiten würden verfolgt. | |
| Ihre Vorwürfe machen die Kritiker an einem Urteil aus Karlsruhe aus dem | |
| Jahr 1996 fest. Damals wiesen die Verfassungsrichter eine Beschwerde einer | |
| Asylbewerberin aus Ghana zurück. Und bestätigten, dass dieses Land auf der | |
| Liste sicherer Herkunftsstaaten bleiben könne. Gleichzeitig wiesen sie aber | |
| darauf hin, dass das Konzept der sicheren Herkunftsstaaten ins Wanken | |
| gerate, „wenn ein Staat bei genereller Betrachtung überhaupt zu politischer | |
| Verfolgung greift, sei diese auch (zur Zeit) auf eine oder einige Personen- | |
| oder Bevölkerungsgruppen begrenzt.“ | |
| Ebendies sei bei Algerien, Tunesien und Marokko der Fall, kritisieren nun | |
| Pro Asyl und Co. So ist zum Beispiel in allen drei Staaten Homosexualität | |
| laut Gesetz strafbar. Schwule oder Lesben, die erwischt werden, können ins | |
| Gefängnis wandern – auch Fälle von Folter sind dokumentiert. In Algerien | |
| würden zum Beispiel religiöse Minderheiten und Konvertiten verfolgt, sagt | |
| Rechtsanwalt Marx. Heißt: Der Staat verfolgt sehr wohl Personengruppen, | |
| auch wenn es sich nur um sehr wenige Menschen handelt. | |
| Die Bundesregierung wischt solche Einwände beiseite. Die Einstufung erfülle | |
| die Anforderungen von Karlsruhe, argumentiert sie in ihrem Gesetz. In den | |
| Staaten erscheine gewährleistet, „dass dort generell, systematisch und | |
| durchgängig weder Verfolgung noch Folter oder unmenschliche oder | |
| erniedrigende Bestrafung“ zu befürchten seien. Ist ein Staat also sicher, | |
| nur weil dort keine „durchgängige“ Verfolgung existiert? Was bedeutet diese | |
| Argumentation für die wenigen, die doch verfolgt werden? | |
| ## Attacken in Köln | |
| Die Regierung hat das Gesetz im Eilverfahren durchgedrückt, es soll die | |
| politische Antwort auf die sexuellen Attacken in der Kölner Silvesternacht | |
| sein. Mehrere Täter kamen aus den nordafrikanischen Staaten. Die genannten | |
| Widersprüche sind nicht die einzigen, die Kritiker an dem hastig | |
| geschriebenen Gesetz monieren. Dennoch ist eine höchstrichterliche Prüfung | |
| unwahrscheinlich. | |
| Eigentlich hat die Opposition im Bundestag das Recht, eine | |
| Normenkontrollklage anzustrengen. Dabei prüft das Verfassungsgericht, ob | |
| ein Gesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Allerdings ist die | |
| Miniopposition im Bundestag zu schwach. Nötig ist ein Votum von 25 Prozent | |
| der Abgeordneten, Grüne und Linke stellen aber nur 20 Prozent. Das | |
| Verfassungsgericht hat Anfang Mai nochmal ausdrücklich festgestellt, dass | |
| eine kleine Opposition ohne dieses Recht auskommen muss. | |
| Ein Bundesland könnte ebenfalls gegen die sicheren Herkunftsstaaten | |
| Algerien, Tunesien und Marokko klagen. Der Bundesrat muss dem Gesetz noch | |
| zustimmen, die entscheidende Sitzung findet am 17. Juni statt. Das Land, | |
| das am ehesten ein Interesse an einer Klage hätte, ist Thüringen. Dort | |
| stellt die kritische Linkspartei den Ministerpräsidenten in einer | |
| rot-rot-grünen Koalition. | |
| Allerdings hat die mitregierende Landes-SPD kein Interesse an der Klage. | |
| Sie ist für die Idee, außerdem will sie ihre Bundespartei nicht brüskieren. | |
| „Mit einer Klage würden wir uns eine Koalitionskrise einhandeln“, heißt es | |
| in Thüringer Regierungskreisen. „Daran hat keiner Interesse.“ Damit wäre | |
| auch diese Variante einer Klage erledigt. | |
| ## Politisch denkender Schwuler | |
| Auch ein Betroffener könnte seine Rechte geltend machen und durch alle | |
| Instanzen bis Karlsruhe gehen. Doch auch dies ist erstmal unwahrscheinlich, | |
| räumen Menschenrechtsexperten hinter vorgehaltener Hand ein. Üblicherweise | |
| würde ein Betroffener von einer Organisation wie Pro Asyl beraten und | |
| begleitet. Doch für Menschenrechtsaktivisten ist es äußerst schwierig, | |
| einen erfolgsversprechenden Einzelfall zu finden, der zu Unrecht von | |
| deutschen Behörden abgelehnt wurde. | |
| Ein politisch denkender Schwuler aus Marokko, der sich gut artikulieren | |
| kann, wird seine Rechte kennen – und sie vor den Beamten in Deutschland | |
| vertreten. Er bekäme sehr wahrscheinlich Asyl, fiele damit aber als Kläger | |
| aus. Die Einstufung von Herkunftsstaaten als „sicher“ beschleunigt ja | |
| lediglich die Verfahren, schafft aber nicht die Einzelfallprüfung ab. | |
| Durchs Raster fielen durch das Gesetz eher bildungsferne Menschen, die ihre | |
| Rechte vor den deutschen Behörden nicht gut vertreten. Sie würden | |
| vielleicht zu Unrecht abgelehnt, wären aber durch die beschleunigten | |
| Abschiebungen aus Deutschland verschwunden, bevor Hilfsorganisationen sie | |
| zu fassen bekämen. Sicher ist: Homosexuelle, die sich in ihrer Heimat | |
| jahrelang verleugnen mussten, outen sich nicht mal eben in einem deutschen | |
| Behördenzimmer. „Es kann Jahre dauern, bis ein guter Fall für eine Klage | |
| gefunden wird“, sagt deshalb ein Menschenrechtsaktivist. „Vielleicht wird | |
| er nie gefunden.“ | |
| Das bedeutet: Wenn das Gesetz einmal in Kraft tritt, wird es trotz aller | |
| Zweifel bleiben. Jetzt liegt die Entscheidung beim Bundesrat. Dort spielen | |
| die von Grünen mitregierten Länder eine entscheidende Rolle. Sie besitzen | |
| eine Sperrminorität, könnten das Gesetz also stoppen. Während sich Grüne in | |
| Ländern wie Nordrhein-Westfalen oder Schleswig-Holstein skeptisch äußern, | |
| hält sich Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der | |
| mit der CDU regiert, die Zustimmung bisher offen. | |
| Im grün-schwarzen Koalitionsvertrag ist festgelegt, dass die | |
| Landesregierung das Gesetz unterstützt, „falls die entsprechenden hohen | |
| verfassungsrechtlichen Voraussetzungen vorliegen.“ Dieser Satz klingt | |
| angesichts der Lage fast ungewollt komisch. Die einen sagen so, die anderen | |
| so – und Karlsruhe wird erstmal schweigen. | |
| 21 May 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Schulte | |
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