# taz.de -- Homosexuellen-Hochburg Nizza: So viele Farben Blau | |
> Auf queeren Pfaden durch die Stadt, die der Jetset liebt und der | |
> Tourismus längst erobert hat. Ein Gayfriendly-Qualitätssiegel steht für | |
> Offenheit. | |
Bild: Beim Queerkarneval in Nizza, schwul-lesbischer Karnevalsumzug. | |
Königin Victoria und Elton John, so viele „Queens“ auf einmal können | |
eigentlich nicht irren, wenn es um die Frage geht, wo man am besten den | |
europäischen Winter übersteht: In Nizza natürlich, an der Cote d’Azur, in | |
Südfrankreich. | |
Queen Victoria residierte hier dereinst im Hotel Excelsior Régina, das wie | |
einige andere Belle-Epoque-Prachtkästen die Zeiten nur überdauern konnte, | |
weil sie nach dem Ersten Weltkrieg in (heute schon wieder kaum bezahlbare) | |
Wohnungen umgewandelt wurden. Und Sir Elton John harrt – noch immer | |
quicklebendig – auf dem Hügel oberhalb des Hafens von Nizza aus. Seine | |
Villa kann man gut erkennen, sie liegt gleich rechts neben einem riesigen | |
Telekommunikationsmast. | |
Nizza, die 350.000-Einwohner-Stadt an der Mittelmeerküste, zwischen Monaco | |
und Cannes gelegen, lockt noch immer, was in der Welt des Jetset Rang und | |
Namen hat. Aber auch Billigflieger landen regelmäßig bei Terminal 2 des | |
Flughafens, unter anderem, um Nizzas größte Touristengruppe seit dem | |
Victorian Age heranzukarren: Engländer. Es kommen aber auch (wieder) | |
Russen, Deutsche und im Sommer kommt selbstverständlich ganz Frankreich. | |
## Ort des queeren Filmfestivals „In & Out“ | |
Und da ist noch eine Gruppe, die sich von dem vielen Licht und dem | |
unendlichen Blau des Himmels und des Meeres angezogen fühlt: Schwule. | |
Brigitte Bardot, die böse alte Frau aus dem nur eine Stunde entfernten St. | |
Tropez, hat völlig Recht, wenn sie sagt, dass die Cote d’Azur völlig | |
überschwemmt sei von Homosexuellen. | |
Auch „Ein Käfig voller Narren“, der französisch-italienische Kultfilm aus | |
dem Jahr 1978, spielt in St. Tropez und nicht in Nizza, er war der erste | |
weltweit erfolgreiche Film aus dem Drag-Queen-Milieu – doch die zweitgrößte | |
homosexuelle Community Frankreichs nach Paris findet man heute in Nizza. | |
Seit 2009 ist die Stadt nun auch Teilstandort des queeren Filmfestivals, | |
dem „In & Out“-Festival, das jährlich Ende April, Anfang Mai stattfindet. | |
Ein optimaler Zeitpunkt, um nach Nizza zu reisen: Der Frühling ist schon | |
angekommen – und die Familien sind längst wieder zu Hause vom Osterurlaub. | |
Die Stadt Nizza ist sich dieser besonderen Zielgruppe bewusst und hat das | |
Programm „A Natural Iridescence“ aufgelegt, ein spezielles Reiseangebot für | |
Regenbogen-Menschen. In Zusammenarbeit mit der örtlichen LGBTI-Organisation | |
hat das Tourismusbüro ein „Gayfriendly“-Qualitätssiegel entworfen, | |
interessierte touristische Institutionen müssen eine entsprechende Schulung | |
absolvieren. | |
Während es die jüngere Gay-Crowd kaum erwarten kann, sich im nahenden | |
Sommer an die Strände von Tel Aviv oder Sitges zu legen und nachts in den | |
Clubs durchzutanzen, ist die den schönen Künsten, dem guten Essen und dem | |
guten Geschmack geweihte Stadt im Süden Frankreichs eher ein Sehnsuchtsort | |
für Ältere mit besser ausgestattetem Bankkonto. | |
## Eher für eine betuchte Klientel | |
Man muss es sich leisten können, im Maison Auer einkaufen zu gehen. Das | |
Süßwarengeschäft, in dem schon Queen Victoria Kundin war, liegt direkt | |
gegenüber der Oper. Les Fruits Confits, 450 Gramm: 31.50 Euro. Allerdings | |
sind die Zuckermandarinen von Auer wirklich einen Mord wert. | |
Nun ist Frankreich zwar bekannt für seine kulinarischen Raffinessen, doch | |
Nizza hat darüber hinaus das Zeug dazu, ein Hotspot für Vegetarier zu | |
werden. Nicht das Fleisch ist hier heilig und auch nicht der Fisch, obwohl | |
die Stadt am Meer liegt. | |
Das Gemüse steht in der traditionellen Küche Nizzas im Vordergrund, und wer | |
auf Nummer sicher gehen will, vertraut auf das lokale Label „Cuisine | |
Nissarde“, das zwar kein Biolabel ist aber doch ein Ausweis dafür, dass | |
lokale, saisonale Zutaten verwendet werden. | |
So wie im „A Buteghinn’a“, einem kleinen, feinen Restaurant, das von drei | |
Freundinnen betrieben wird und nur tagsüber geöffnet ist. Ob Zwiebelkuchen | |
mit Anchovis, Kichererbsen-Pommes mit scharfer Paprikasoße oder würziger | |
Auberginenpaste, die drei Frauen präsentieren hier jeden Tag, was die | |
Gärten Südfrankreichs hergeben. | |
## Die Schwulenszene bietet alles | |
Bewegt man sich entlang der queeren Pfade, hat man ohnehin eine gute Chance | |
auf Erfahrungen jenseits des Massentourismus. So empfiehlt sich ein Bummel | |
in der Rue Bonaparte, die vom Place Garibaldi abgeht, dem heimlich | |
wichtigsten, wenn auch nicht größten Platz der Stadt, unweit des kleinen | |
Hafens gelegen. Hier befindet sich das Viertel Petit-Marais, der kleinere | |
Bruder des Pariser Marais. | |
Ehemals „Schmuddelecke“, wird das Schwulenviertel derzeit angentrifiziert | |
und zieht Nachtschwärmer aller Art an. Doch die Schwulenszene Nizzas bietet | |
noch immer alles, was sich gehört, inklusive Bars mit Cruising-Bereich | |
(etwa das Malabar Station, 10 rue Bonaparte) und Saunen (die größte Nizzas | |
und der Cote d’Azur ist Les Bains Douches, 7 rue Gubernatis). Auch | |
außerhalb des Petit Marais finden sich jede Menge queere Restaurants, Cafés | |
und Bars – sogar in der sehr touristischen aber trotzdem sehenswerten | |
Altstadt von Nizza. | |
Am Place Rosetti zum Beispiel hat man den besten Blick auf die Cathédrale | |
Sainte-Réperate, der Schutzheiligen von Nizza, von einer queeren Bar aus, | |
der Bar Bitch & Butch. Gleich nebenan: Nizzas beste Eisdiele Fenocchio, in | |
der man daran erinnert wird, das Nizza einst italienisch war. Erst seit | |
1859 gehört die Stadt endgültig zu Frankreich – wenngleich Spötter | |
behaupten, dass die Stadt eigentlich zu Großbritanien gehöre. Ein bisschen | |
ist es so wie mit dem Witz, dass Mallorca eigentlich ein Bundesland von | |
Deutschland ist. | |
Auch die Geschichte einiger Deutscher ist mit Nizza verbunden, speziell | |
solchen, die Nazideutschland verlassen mussten und an der Promenade des | |
Anglais auf bessere Zeiten warteten: Heinrich Mann, Hermann Kesten und (der | |
Österreicher) Joseph Roth wohnten sogar im selben Haus, in der Nummer 121. | |
Im Jahr 1940 mussten sie Frankreich wieder verlassen. Der Journalist | |
Theodor Wolff schaffte es nicht rechtzeitig, seine Ausreise zu | |
organisieren. Er wurde 1943 im Haus Nummer 63, Promenade des Anglais, von | |
der Gestapo verhaftet. | |
## Zu Ehren von Magnus Hirschfeld | |
Eines „natürlichen“ Todes starb hier Magnus Hirschfeld, der Sexualforscher | |
und Mitbegründer der ersten Homosexuellenbewegung. Hirschfeld war Jude, | |
schwul und Kommunist – nachdem er in Deutschland nicht mehr sicher war, | |
beschloss er, von einer Vortragsreihe im Jahr 1932 nicht mehr | |
zurückzukehren. | |
Sein Institut in Berlin wurde 1933 zerstört und nur wenig später starb | |
Hirschfeld in Nizza, wo er auch begraben liegt. Und zwar auf dem Cimetière | |
de Caucade, dem russischen Friedhof. Unweit des Flughafens gelegen erreicht | |
man die Gräberfelder am besten mit dem Bus Nr. 8, Haltestelle Caucade/Place | |
Sainte-Marguerite. Das Grab ist in der Reihe Nr. 9, rechts ab von der | |
Avenue des Floristes. | |
Der Besuch dieses Grabes ist eigentlich ein Muss für Homosexuelle. Steht | |
doch auf seinem Grabstein geschrieben: „per scientiam ad iustitiam“, durch | |
Wissenschaft zu Gerechtigkeit. Wer mag, kann auch eine frische Blume | |
mitbringen, womöglich von dem Blumenmarkt in der Altstadt. Oder einen Stein | |
ablegen, wie in der jüdischen Kultur üblich. | |
Denn dass es Städte wie Nizza gibt, in denen sich Homosexuelle so frei und | |
selbstbewusst bewegen können, ist auch ihm zu verdanken. | |
29 May 2016 | |
## AUTOREN | |
Martin Reichert | |
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