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# taz.de -- Gebirgsbahn: Im Wunderzug zu Mussolinis Bahnhof
> Eine Zugfahrt mit dem "Train des Merveilles" in den französischen
> Seealpen
Bild: Tendabahn in den Seealpen: Viaduc de l'Escarene
Es ist wie die Spreu, die sich vom Weizen trennt: Nizzas Stadtbahnhof,
Ziel- und Umschlagort unzähliger Sonnensucher an der Côte dAzur, ist zwar
zu jeder Zeit ein Areal der Völkerwanderung, doch wer morgens die Waggons
des "Train de Merveilles", den "Wunderzug", besteigt, dem ist weder nach
überfüllten Stränden zumute noch nach einem Bad im Mittelmeer. Ihn treibt
es vor allem in die Berge. Denn der Wunderzug verkehrt auf der
französischen Strecke der Tendabahn, jenem Schienenstrang durch die
Seealpen, der das italienische Cuneo mit dem französischen Nizza verbindet.
Die Tendabahn ist ein Kleinod unter den europäischen Gebirgsbahnen: Auf
einer fast 125 Kilometer langen Strecke unterquert sie den Colle di Tenda
in einem acht Kilometer langen Tunnel und überwindet dabei einen
Höhenunterschied von mehr als 1.000 Metern, eine Größenordnung, die in
Europa nur noch die "Räthische Bahn" in der Schweiz übertrifft.
Aber vor allem ist ein Ticket für den Train des Merveilles auch immer
Einladung, die mannigfaltige Geschichte und Natur des Hinterlands der Côte
dAzur zu erleben: "Vous serez enchanté!" - "Sie werden verzaubert sein!",
lächelt George, der Zugbegleiter. Er sei am liebsten auf dieser Strecke,
sagt er, und dass man mit keiner anderen Eisenbahn der Welt innerhalb einer
halbe Stunde vom Sommer in den Winter käme. Tatsächlich ist der Kontrast
frappierend: Bis Peille, nördlich von Nizza, erhascht der Blick vor allem
Palmen und Zypressen. Doch sobald der Zug bei LEscarène die ersten Tunnel
hinter sich lässt, ersetzen sie Kiefern und Fichten, werden die Zitronen-
und Feigenbäume seltener, bis sich schließlich die weißen Gipfel der Alpen
zeigen. Überhaupt bietet das Zugfenster bei höchstens 80 Kilometer pro
Stunde ein faszinierendes Panorama - trotz der vielen "Dunkelphasen" in den
Tunneln: Schluchten, die unter den Wagen zu beginnen scheinen, Dörfer, die
in der Bergwelt wie verloren wirken, Gehöfte, die auf bedrohlich spitzen
Felsen stehen. Irgendwo vor Sospel verlangsamt der Zug spürbar seine Fahrt:
"Die Gegend hier ist tektonisch aktiv", erklärt George, "Bergrutsche
verformen die Gleise, sodass man nur 10 Kilometer pro Stunde fahren kann."
Und während der Train des Merveilles im Schneckentempo das Portal eines
Tunnels passiert, werden darin schwarze Löcher sichtbar - Schießscharten,
die auf eine alte Festungsanlage hinweisen. Die Tendabahn, seit 1883 von
Cuneo aus errichtet, war im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder
Konfliktlinie politischer Spannungen zwischen Italien und Frankreich. Wenn
der Zug quietschend in Breil-sur-Roya hält, befindet man sich schon 300
Meter über dem Meeresspiegel. Hier führt die Straße zum Tendapass in 1.871
Metern Höhe mitten durch den Ort. Wer aussteigt, stößt auf unzählige
Olivenhaine, die sich an steilen Abhängen hinaufziehen. Seit dem
Mittelalter ist das kleine Städtchen Breil-sur-Roya berühmt für die grüne
Frucht - noch heute wird sie dort ganz traditionell zubereitet.
Zwei Stationen weiter, in St. Dalmas de Tende, wartet eine Attraktion
besonderer Art: In dem kleinen Bergdörfchen ließ Mussolini 1928 einen
Bahnhof errichten - ein Monumentalbau im neobarocken Stil. Bis 1940 war er
Grenzbahnhof zwischen Italien und Frankreich und repräsentierte das
Imperium Italicum. Heute steht Mussolinis Bahnhof leer, und seine Fenster
sind mit Brettern zugenagelt, nicht mal einen Fahrkartenschalter gibt es
dort. In St. Dalmas de Tende wohnen kaum 300 Menschen, und gewöhnlich
rauscht dort nur der Wind. Als Einziger steigt Eric zu, ein belgischer
Tourist, und erzählt von einem anderen Stück Geschichte: Er habe einem
Reiseführer geglaubt, wonach hier der Eingang zum "Tal der Wunder" sei -
dem Wanderpfad, der dem Zug den Namen gab. Jedoch erstreckt es sich erst
zehn Kilometer weiter nördlich, im Umkreis des dunklen Mont Bégo, und
beherbergt wundersame Felsgravuren aus der Bronzezeit. Erst im Juni gelingt
es, ohne Ski die rätselhaften Tierdarstellungen zu betrachten. Das hat auch
Eric erfahren müssen: Die Passstraße hinauf nach Castérino sei er noch per
Autostopp gekommen, dann aber sei die Reise zu Ende gewesen: "Trop de
neige", sagt er lachend und deutet auf seine nassen Hosenbeine, "zu viel
Schnee".
Tende, noch auf der französischen Seite, ist eine Perle der maritimen
Alpen, ein weißes mediterranes Städtchen, umgeben von mehr als zwanzig
Bergen mit über 2.000 Metern Höhe. Im Osten, auf den Kämmen der
italienischen Seite, erstrecken sich immergrüne Pinienwälder, im Westen
thront das gewaltige Massiv des dunklen Mont Bégo. Hier leert sich der
Wunderzug. Auch George, der Zugbegleiter, steigt aus, und Eric, der
belgische Tourist: Die Kapelle von St. Sauveur im romanischen Stil lädt zum
Verweilen ein, und auch die romantische Felsgrotte der Häretiker - sie
diente im 16. Jahrhundert Calvinisten als Versteck. In Tende gibt es im
Restaurant Sugelli die lokale Spezialität: feine Teigklümpchen aus
Weizenmehl und Wasser, veredelt mit Kartoffeln - am besten isst man diese
Urgnocchi mit Wild.
Am späten Nachmittag geht es wieder zurück auf der südlichen Trasse der
Tendabahn über Vengtimilia am Mittelmeer: Hier gibt es wieder Zypressen und
Palmen, Carabinieri grüßen in hellem Riemzeug. Der 2.000-Seelen-Ort ist
touristisch nur wenig erschlossen. Am Ufer liegen zerschrammte
Fischerboote, es riecht nach Tang. In der Ferne lässt sich das Cap des
Anges bei Nizza erkennen - und in der Nacht funkeln die Lichter der
Touristenzentren.
11 Jul 2009
## AUTOREN
Michael Böhm
## TAGS
Reiseland Frankreich
Nizza
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