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# taz.de -- Prozessauftakt in Berlin: Von Schlichtern und Schlägern
> Vor vier Jahren wurde ihr Freund Jusef El-A. erstochen. Zwölf junge
> Männer stehen ab heute vor Gericht. Sie sollen schuld an der Eskalation
> des Streits sein.
Bild: Tausende Menschen kamen zur Beerdigung von Jusef El-A. vor vier Jahren.
Ein Sonntagnachmittag in Neukölln, ein Fußballspiel auf dem Bolzplatz einer
Hochhaussiedlung: Es spielen deutsch-, türkisch-, polnisch- und
arabischstämmige Berliner. Unter den Spielern – die jüngsten Teenager, die
ältesten um die 30 Jahre alt – entsteht ein Streit. Dessen Anlass: ein
vermeintlich schlechtes Zuspiel. Der Konflikt eskaliert zur Schlägerei. Der
Ort verlagert sich, immer mehr Personen nehmen teil, die mit dem
Fußballspiel und dem anfänglichen Streitpunkt weder zu tun hatten noch
dabei waren. Am frühen Sonntagabend liegt dann ein 18-Jähriger tot am
Boden: Jusef El-A., getötet durch Messerstiche.
Was sich bereits vor vier Jahren, am 4. März 2012, am Rande Nordneuköllns
knapp außerhalb des S-Bahn-Rings ereignete, führt ab dem heutigen
Donnerstag zur ersten Gerichtsverhandlung. Vor Gericht steht dabei jedoch
nicht der Mann, der Jusef erstach: Der heute 38-jährige Sven N. war nach
Geständnis und Vernehmungen durch die Polizei bereits wenige Tage nach der
Tat wieder in Freiheit. Die Ermittler erkannten in seiner Tat Notwehr, eine
Anklage gegen N. gab es folglich nicht.
N. wird an dem nun beginnenden Prozess deshalb nicht als Beschuldigter,
aber als Zeuge teilnehmen. Denn gegen andere Beteiligte ermittelte die
Staatsanwaltschaft weiter: Ihre Anklage richtet sich gegen die Gruppe von
Jugendlichen, zu der auch Jusef El-A. gehörte. „Besonders schwerer
Landfriedensbruch“ und Beteiligung an einer Schlägerei, „durch die der Tod
eines Menschen verursacht worden ist“, lauten die Vorwürfe gegen die
insgesamt zwölf Angeklagten. Das Strafmaß liegt bei Verurteilung laut der
Pressestelle der Berliner Strafgerichte bei sechs Monaten bis zehn Jahren
Freiheitsstrafe. Und eine solche hält auch das zuständige Landgericht
offenbar für möglich: Sonst hätte es nach Auskunft der Pressestelle die
Klage der Staatsanwaltschaft gar nicht erst angenommen.
Düstere Aussichten also für die Beschuldigten, von denen der jüngste am Tag
des Geschehens 17 Jahre, der älteste 23 Jahre alt war und nur ein einziger
beim Ausbruch des Streits auf dem Fußballplatz selbst dabei war: Fatih D.,
heute 24.
D. hatte die anderen zusammengerufen, weil er sich bei der
Auseinandersetzung auf dem Bolzplatz als Opfer fühlte. Warum die jetzt
Angeklagten seinem Ruf folgten, ihn im weiteren Verlauf des dort
entstandenen Streits zu unterstützen, muss das Gericht nun klären: War das
Ziel der Gruppe weitere Gewalt? Oder ging es, wie es Freunde von Jusef bei
Vernehmungen aussagten, darum, den Streit mit Worten zu schlichten? Der
hatte sich vom Bolzplatz, wo es zu Schlägereien zwischen D. und
herbeigerufenen Verwandten und einigen älteren deutschen Mitspielern um
Sven N. gekommen war, in die nahe Highdeck-Siedlung verlagert, wo ein
Freund und Mitspieler von N. wohnte. Vor dessen Haus, in dem sich N. und
der Bewohner befanden, versammelte sich die Gruppe um Fatih D., zu der erst
zu diesem Zeitpunkt auch Jusef mit einigen Freunden gestoßen war.
Zum Reden und Schlichten: So hatten es jedenfalls Jusefs Freunde in
Vernehmungen kurz nach der Tat angegeben, deren Protokolle in der der taz
vorliegenden Ermittlungsakte zur Tötung des 18-Jährigen enthalten sind.
Jusef El-A. hatte ein Deeskalations- und Mediationstraining absolviert und
gehörte wie auch einige seiner nun angeklagten Freunde dem Jugendbeirat
seiner Wohnsiedlung an. Laut der Anklageschrift für den Prozess am
Donnerstag, die der taz ebenfalls vorliegt, sollen Zeugen aber auch Wörter
wie „schlagen“, „zusammenschlagen“ oder gar den Ruf „Ich bringe euch …
um!“ aus der Gruppe um Fatih D. gehört haben.
Widersprüche zwischen der alten Ermittlungsakte und der aktuellen
Anklageschrift gibt es auch bei am Tatort gefundenen Waffen: So sahen laut
der alten Protokolle mehrere Vernommene eine als Schwert oder Machete
beschriebene Waffe bei Sascha V., der zu der Gruppe um Sven N. gehörte und
auch erst in der Highdeck-Siedlung zum Geschehen dazustieß. Obwohl sich
eine solche Aussage auch in der Anklageschrift findet, ordnet diese ein
Schwert der Gruppe der Angeklagten zu. Erstaunlich außerdem: Auch in der
Bewertung der Stimmungslage in der Highdeck-Siedlung folgt die
Staatsanwaltschaft allein den Aussagen der Gruppe um Messerstecher Sven N.:
Diese belegten, heißt es in der Anklageschrift, „die aggressive,
bedrohliche und gewaltsame Vorgehensweise“ der Gruppe um Fatih D.
Fest steht: Waffen waren im Spiel, und auch zu körperlicher Gewalt war es
gekommen. Sven N. war laut Anklageschrift schon auf dem Bolzplatz
verprügelt worden und hatte offenbar auch in der Highdeck-Siedlung noch
Schläge bekommen. Ein gerichtsärztliches Gutachten attestiert ihm
Schürfwunden und Hautverfärbungen sowie Kopfverletzungen durch Schläge mit
der Faust und Symptome einer Gehirnerschütterung. Fest steht auch: N.
selbst war eindeutig bewaffnet. Bevor er das Haus seines Freundes in der
Highdeck-Siedlung verließ, um sich der Gruppe um Fatih D. zu stellen, hatte
er drinnen das Messer an sich genommen, mit dem er später Jusef El-A.
erstach.
Sven N. ist laut Staatsanwaltschaft einschlägig vorbestraft: verurteilt
wegen eines früheren Gewaltdelikts. Von den zwölf nun Angeklagten ist nur
einer vorbestraft: wegen versuchter Körperverletzung und Beleidigung. Gegen
drei weitere wurden einzelne Verfahren eingestellt, acht waren bislang nie
polizeiauffällig. Für den heute beginnenden Strafprozess vor der
Jugendkammer des Berliner Landgerichts sind bis Ende Juni sechs
Verhandlungstage angesetzt.
12 May 2016
## AUTOREN
Alke Wierth
## TAGS
Justiz
Berlin-Neukölln
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