| # taz.de -- Nuit Debout in Paris: Vieles ist passiert – und vieles nicht | |
| > Seit einem Monat reden Franzosen über eine neue Welt. Die | |
| > Nuit-Debout-Teilnehmer sind bunt gemischt. Hier erzählen sie von ihren | |
| > Motiven. | |
| Bild: Nuit-Debout-Teilnehmer auf der Place de la République in Paris | |
| Heute ist Samstag, der 61. März der neuen Zeitrechnung – behaupten | |
| zumindest die Anhänger von Nuit Debout in Paris. Seit dem 31. März zählen | |
| sie die Tage weiter und treffen sich allabendlich zum Diskutieren. Am | |
| Anfang war es ein Protest gegen die geplante Arbeitsrechtsreform, durch die | |
| Kündigungen leichter und Abfindungen begrenzt werden sollen. | |
| Im ersten Monat der „wachen Nächte“ ist jedoch viel passiert: Es gibt | |
| mittlerweile mehr Forderungen, Gianis Varoufakis war da, die Bewegung hat | |
| sich in Städten in ganz Frankreich ausgebreitet. Am Rande der Veranstaltung | |
| kam es gelegentlich auch zu Konfrontationen mit der Polizei, wie am | |
| vergangenen Donnerstag, als Steine und Tränengas durch die Nacht flogen. | |
| Aber vieles ist auch nicht passiert: Ein erster Versuch, sich auf einen | |
| gemeinsamen nächsten Schritt zu einigen, ist gescheitert. Das geplante | |
| Manifest ist noch ungeschrieben. Die Anhängerschaft beschränkt sich zumeist | |
| auf die gebildete Mittelschicht – die Bewohner der verarmten Vorstädte sind | |
| gering vertreten. Kritiker wie der konservative Philosoph Alain | |
| Finkielkraut behaupten, hier diskutierten „ausschließlich gleich und gleich | |
| miteinander“. | |
| Die Teilnehmer der Nuit Debout gestehen ein, dass es noch viel zu tun gibt. | |
| Was genau? Darüber muss weiter geredet werden. | |
| ## Ulysse Elise, 24, Physikstudent: | |
| Ich komme fast täglich zur Nuit Debout, weil ich politische Diskussionen | |
| liebe, und hier gibt es das den ganzen Tag! Am Anfang war es chaotisch, | |
| aber Stück für Stück hat es sich organisiert, ein bisschen wie ein | |
| Ameisenhaufen. Heute gibt es eine Internetseite und ein Onlineradio. | |
| Im Moment versuchen wir zu definieren, was die Bewegung ist. Wir sind alle | |
| gegen das Arbeitsgesetz, aber wofür sind wir? Es gibt keine Anführer, unser | |
| Anführer müsste sozusagen eine konkrete Idee sein. Dafür gibt es eine | |
| Manifest-Kommission. Bei den Forderungen geht es zuerst darum, dass der | |
| Gesetzesentwurf der Arbeitsministerin zurückgezogen wird. Dann gibt es | |
| Ziele, die kontroverser sind, wie ein bedingungsloses Grundeinkommen oder | |
| eine Senkung der Arbeitszeiten. Ein weiteres gemeinsames Ziel ist die | |
| direkte Demokratie. | |
| Arbeitsgruppen treffen sich ab 13 Uhr. Um 18 Uhr fängt die | |
| Generalversammlung mit einem eigenen Soundsystem an, es gibt Berichte aus | |
| den Arbeitsgruppen und dann eben Diskussion. Ich gehe meistens nach der | |
| Generalversammlung nach Hause, gegen Mitternacht. (Protokoll: Luisa Maria | |
| Schulz) | |
| ## Anne Flanagan, 71, Renterin: | |
| Ich bin aus Neugier gekommen, um mit eigenen Augen zu sehen, worüber man | |
| redet. Hier ist eine Stimmung des Vertrauens, es ist freundschaftlich. | |
| Chaotisch und doch organisiert. Als wäre ein Zeltdach darüber, das alles | |
| zusammenhält. Es ist sehr berührend. | |
| Den Platz zu besetzen gefällt mir sehr, das ist wie ein ungezwungener | |
| Jahrmarkt! Aber wenn Sie irgendwo stehen bleiben, um zuzuhören, merken Sie: | |
| Das ist sehr ernsthaft! Man muss nicht einverstanden sein, aber es ist | |
| bewundernswert. Die Forderungen sind divers, aber es gibt zumindest das | |
| gemeinsame Ziel, zu teilen. Ruhig, ohne zu schreien. | |
| Die Leute schreien nicht, während auf Demonstrationen fast immer geschrien | |
| wird. Die Disziplin der Weitergabe des Megafons, das ist beeindruckend. Ich | |
| war im Mai 68 dabei und wollte nun sehen, ob es Ähnlichkeiten zu damals | |
| gibt. Der große Unterschied ist, dass im Vergleich zu Mai 68 nicht viele | |
| junge Leute hier sind. Damals war es eine Studentenbewegung, hier ist es | |
| eine Bürgerbewegung. Dieses Konzept des bürgerlichen Engagements ist | |
| ziemlich bestechend (Protokoll: Luisa Maria Schulz) | |
| ## Frédéric Alpi, 53, Kung-Fu-Lehrer: | |
| Ich bin seit dem 31. März auf dem Platz, von Anfang an. | |
| Straßendemonstrationen sind nutzlos. Alle zwei Monate von hier nach da | |
| laufen und dann nach Hause – das bringt nichts. Das ist Liturgie, Religion, | |
| nicht Politik. Wirksame Bewegungen haben durch ständige und langfristige | |
| Besatzungen stattgefunden. | |
| Ich bin nicht sicher, ob hier eine neue linksradikale Szene entsteht. Was | |
| gesagt wird, ist nicht immer radikal. Aber vielleicht wollen wir eine neue | |
| Art und Weise begründen, die Linke zu betrachten, zu fassen. Es ist ähnlich | |
| wie bei Occupy Wall Street. Diese Bewegung hat Bernie Sanders | |
| hervorgebracht, und er ist kein Radikaler, eher ein Sozialdemokrat. | |
| Regelmäßig gibt es hier starke Momente. Vor Kurzem kam ein Orchester mit | |
| 350 Musikern auf den Platz. Als sie Dvořáks Symphonie „Aus der Neuen | |
| Welt“spielten, dachten die Leute: „Mensch, es gibt so viele verschiedene | |
| Leute, und hier sind wir alle zusammen.“ Das konnte jeder fühlen. Danach | |
| konnte niemand mehr behaupten, dass nur Punks und struppige Linksradikalen | |
| hier versammelt sind. (Protokoll: Elise Amchin) | |
| ## Mona Stir, 48, Musikerin: | |
| Ich komme zu Nuit Debout, weil ich glaube, dass es dringend nötig ist, die | |
| VI. Verfassung des französischen Staates zu schreiben. Die Ämterkumulation, | |
| die Beziehungen zwischen Staat und Finanzsektor, das indirekte Wahlsystem, | |
| all das müsste abgeschafft werden. | |
| Mein Problem hier ist, dass am Wochenende oft Leute kommen, die nur Party | |
| machen wollen. Sie trinken Bier, werfen ihren Müll auf den Boden, sie | |
| pissen irgendwohin. Es gibt Typen, die in Rudeln versuchen, Mädchen in die | |
| Enge zu treiben. Aber ich glaube, das findet man am Rande aller | |
| Volksbewegungen, die sich auf der Straße abspielen. Das spiegelt wider, was | |
| sich generell auf der Straße abspielt, aber es spiegelt nicht die Bewegung | |
| wider. | |
| Dass für den 1. Mai die Gewerkschaften auf die Place de la République | |
| eingeladen sind, halte ich für eine gute Idee. An die Nuit Debout kann sich | |
| jeder anschließen. Wenn die Gewerkschafter uns aber zu sagen versuchen, was | |
| wir tun und wie wir denken müssen, werden wir sie rausschmeißen. | |
| (Protokoll: Luisa Maria Schulz) | |
| ## Nath Baudtanette, 19, Student: | |
| Die Arbeitsrechtsreform hat mich hierher gebracht. Dann hatte ich das | |
| Gefühl, als einfacher Bürger betrogen worden zu sein. Ich war zu jung, um | |
| 2012 François Hollande zu wählen, aber ich hätte ihn gewählt. Und er hat | |
| nicht erfüllt, was von ihm erwartet wurde. | |
| Ich wünsche mir, dass eine neue politische Partei entsteht, aber das ist | |
| sehr umstritten. Viele wollen eine richtig linke Regierung. Andere lehnen | |
| das System komplett ab und wollen Anarchie. Wir befürchten, dass eine neue | |
| Partei im Endeffekt auch wieder nur enttäuscht. Das wäre ärgerlich. | |
| Auf jeden Fall hoffe ich, dass diese Bewegung nicht im Nichts verläuft. Ich | |
| möchte, dass die Arbeitsrechtsreform zurückgenommen wird. Vielleicht können | |
| wir auch Hollande dazu bringen, eine linke Politik zu machen, zumindest in | |
| seinem letzten Jahr. In der letzten Umfrage war der linke Kandidat Jean-Luc | |
| Mélenchon bei zwei Prozent, die Kommunistische Partei bei noch weniger. | |
| Wenn wir keine Front-National- oder Républicains-Regierung wollen, bleibt | |
| nur Hollande. Das ist sch…ade. (Protokoll: Elise Amchin) | |
| 30 Apr 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Annina Lehmann | |
| Louis Belin | |
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