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# taz.de -- Die Wahrheit: SOS, Nahrungskette!
> Schrecklicher Verdacht: Landen Mittelmeer-Flüchtlinge im Dosenfisch?
> Verbraucherschützer schlagen jetzt weiträumig Alarm.
Bild: Haben wir Flüchtlingsfleisch in deutschen Thunfischdosen, wie Verbrauche…
Markus Merguez vom Verband Freier Deutscher Verbraucherschützer (VFDV)
liebt Fisch. Auf dem Tisch stehen vier offene Konserven, davor jeweils
kleine Teller mit Kostproben.
„Hier“, sagt er, „das ist ein Thunfisch aus diesem Jahr, Nummer zwei ist
einer von vor zwei Jahren, Nummer drei auch, aber aus einem anderen
Fanggebiet und Nummer vier …?„ Er hebt die Dose hoch, wirft einen Blick
aufs Etikett. „Das Problem ist der Thunfisch von heute. Sie merken ja
selbst“, sagt er, „der hier, aus diesem Jahr, schmeckt ganz anders als der
von …“, er rechnet im Kopf „… vor fünfzehn Jahren. Irgendwie seltsam.�…
Merguez weiß auch, woran das liegt, und dagegen will er jetzt etwas tun.
Noch immer ertrinken Flüchtlinge auf dem Weg von Afrika nach Europa im
Mittelmeer, allein im vorigen Jahr waren es 1.750 Menschen. Viele dieser
Toten können nicht geborgen werden, und längst nicht alle Leichen werden an
die Strände der spanischen und italienischen Urlaubsorte gespült.
So verbleibt ein großer Teil der Flüchtlinge im Mittelmeer, und hier kommt
der Thunfisch ins Spiel. Denn der Thun ist ein Raubfisch, der vor allem
andere Tiere frisst, er ernährt sich aber auch von ertrunkenen
Flüchtlingen. Verbraucherschützer schlagen nun Alarm. Haben wir
Flüchtlingsfleisch in deutschen Thunfischdosen?
Wir stellen Anton Stracke diese Frage. Auch er liebt Fische. Zärtlich
beobachtet er seine Guppys im Aquarium seines Büros. Stracke liebt Fische
darüber hinaus beruflich, er ist Geschäftsführer des Verbandes der
Thunfisch verarbeitenden Industrie Deutschlands (VTID). „Zunächst sagen wir
nicht Raubfisch“, korrigiert er uns. „Thunfische haben mit ihrem Lebensraum
eine Jäger-Beute-Beziehung.“
## Beifang ins Meer
Er schließt die Augen und holt tief Luft. Es ist zu sehen, wie sehr ihn die
Situation mitnimmt. „Wir vom VTID“, sagt er schließlich, „sind im Hinbli…
auf die derzeitige Flüchtlingsflut … äh, -welle … äh, -krise … also die
derzeitige Flüchtlingssituation … also, die Fischer vor Ort sind
angewiesen, Beifang konsequent und ohne Ansehen des Herkunftslandes zurück
ins Meer zu werfen.“
Wird so auch mit Flüchtlingen verfahren? Anton Stracke schüttelt entsetzt
den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Die deutschen Thunfisch-Fischer vor Ort
sind angewiesen, konsequent mit den örtlichen Sicherheitsbehörden
zusammenzuarbeiten.“ Doch was geschieht mit einem Thunfisch, der sich zu
Lebzeiten von Menschenfleisch ernährt hat? Gelangt er in die deutsche
Thunfischdose? Und somit auf den deutschen Abendbrottisch?
Stracke starrt lange in sein Aquarium, ehe er antwortet. „Der VTID ist
bemüht, den Anteil der flüchtlingsfressenden Thunfische möglichst klein zu
halten“, sagt er. „Aber wir können den Fischen ja nicht vorschreiben, was
sie fressen sollen. Ein Thunfisch muss tun, was ein Thunfisch tun muss. Und
ein Thunfisch-Fischer auch. Natürlich sollen die in Gegenden fischen, die
nicht so stark von Flüchtlingsrouten bedroht sind. Die Griechen etwa sind
seit der Finanzkrise sehr gebeutelt, die müssen fischen, was ihnen in die
Netze kommt, sonst haben wir in einem halben Jahr Tausende
Wirtschaftsflüchtlinge aus Griechenland, die sich als Syrer ausgeben. Das
kann nicht die Lösung sein.“
## Kennzeichnung tut not
Wäre nicht eine Kennzeichnung der deutschen Thunfischdosen angebracht, wie
es Verbraucherschützer fordern, etwa ein Siegel mit der Aufschrift: „Kann
Menschenfleisch enthalten.“ – „Nein!“, sagt Anton Stracke. „Denken Si…
an die Arbeitsplätze. Es ist natürlich denkbar, auf Dosen, die Thunfisch
enthalten, der nachweislich keine ertrunkenen Flüchtlinge gefressen hatte,
einen Hinweis aufzudrucken, etwa: Enthält kein Menschenfleisch.“
Wie viel Prozent der deutschen Thunfischdosen würde das betreffen?, haken
wir nach. Stracke wiegt bedächtig den Kopf. „Das bewegt sich im mittleren
einstelligen Promillebereich. Aber da müssten wir erst einmal
Untersuchungen abwarten.“ Ob man diesen Hinweis zunächst auf Dosen mit
atlantischem Thunfisch drucken könne, wie es der Verband der
Deutsch-Atlantischen Thunfisch-Fischer fordere?
Das sei eine Diskriminierung des Mittelmeer-Thunfischs, der es ohnehin
schon schwer habe, gibt Stracke zu bedenken, „außerdem ist auch der
atlantische Thunfisch ein Fisch mit Jäger-Beute-Hintergrund – und im
Atlantik geht ja ebenso mal das eine oder andere Schiff unter. Eine
Garantie wird es – fürchte ich – nie geben.“
Dem stimmt auch Thomas Knipp zu, er ist katholischer Marinepfarrer beim
VTID. „Aber wir sollten das Positive an der Situation sehen. Tausende
dieser armen ertrunkenen Flüchtlinge erhalten ja bisher keine richtige
Bestattung. Durch die Verwertungskette Flüchtling–Thunfisch–Konsument wird
ein Großteil von ihnen – wenn auch vielleicht erst in einigen Jahrzehnten –
schließlich doch noch beerdigt.“
Eine letztlich durchaus tröstliche Wendung in diesem abgrundtief traurigen
Kapitel der Fischereigeschichte.
20 Apr 2016
## AUTOREN
Michael-André Werner
## TAGS
Flüchtlinge
Ernährung
Fischerei
Psychologie
Bedingungsloses Grundeinkommen
Joachim Gauck
Smartphone
Öffentlicher Nahverkehr
Brandstiftung
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