| # taz.de -- Filmstart „The Forbidden Room“: Alles wie früher, nur übertri… | |
| > Das Bild wirft Blasen, zerläuft. „The Forbidden Room“ von Guy Maddin ist | |
| > ein Film aus Filmen, die nicht mehr existieren – oder nie existiert | |
| > haben. | |
| Bild: Auf der Reise ins Innere des Films: „The Forbidden Room“. | |
| In einer Reportage aus dem Jahr 1925 schreibt Joseph Roth über ein Erlebnis | |
| im Hafen von Marseille: „Das Kino liegt gegenüber den Schiffen. Von der See | |
| aus kann der Mensch, der die Freuden des Kontinents lange entbehrt hat, die | |
| großen, bunten Plakate mit dem Feldstecher sehen. Das Kino heißt bescheiden | |
| ‚Kosmos-Theater‘. Man gibt den Film von den ‚Roten Wölfen‘.“ | |
| Und dann erzählt Roth von diesem Film, einer wilden Räubergeschichte aus | |
| den Abruzzen, im Zentrum eine Frau namens Margot, die von einer Bande | |
| entführt und in einen Turm gesperrt wird. Das Seltsame daran ist laut Guy | |
| Maddin und seinem Koregisseur Evan Johnson nur: Man findet nichts über | |
| diesen Film. Die beiden haben für ihren Film „The Forbidden Room“ | |
| Recherchen betrieben und sind auf nichts, keine anderen Spuren als die in | |
| Roths Reportage gestoßen. „Vielleicht“, sagt Johnson, „hat er den Film | |
| einfach erfunden.“ | |
| In jedem Fall jedoch gibt es die „Roten Wölfe“ nun (wieder). Maddin und | |
| Johnson haben den Film nach den kargen Vorgaben Roths selbst gedreht, halb | |
| rekonstruiert, halb geträumt. Und nicht nur diesen. „The Forbidden Room“ | |
| ist ein Film aus Filmen, die nicht mehr existieren. Und die jetzt, | |
| erträumt, erfunden, doch wieder, neu in der Welt sind. | |
| Es geht dabei nicht um getreue Rekonstruktionen. Aus dem bloßen Titel und | |
| ein paar Ideen zu Regisseur oder nationalkinematografischem Kontext wird | |
| eine Geschichte gesponnen, die meist noch dazu recht absurd und verrückt | |
| ist. | |
| ## „Wie man ein Bad nimmt“ | |
| Die Werke tragen Titel wie „Der Traum des Schnurrbarts“ – und ganz | |
| buchstäblich ist es hier ein Schnurrbart, der träumt – oder „Der | |
| Januskopf“, eine Jekyll-and-Hyde-Geschichte – das verlorene Original ist | |
| von Murnau–, oder, ganz anderes Ende der Kinogeschichte, „Wie man ein Bad | |
| nimmt“. Da stammt die Inspiration von einem vermutlich leicht anzüglichen | |
| „Lehrfilm“ von Dwain Esper von 1937, der im selben Jahr auch einen Film mit | |
| dem Titel „Wie man sich vor dem Ehemann auszieht“ gedreht hat (den gibt es | |
| auf YouTube zu sehen). | |
| Mit dem Film zum Bad beginnt und endet „The Forbidden Room“. Man sieht | |
| einen schmierigen älteren Mann im Bademantel, der sehr banale Dinge darüber | |
| erzählt, wie man, eben, ein Bad nimmt. Und was man sieht, sind Badewannen | |
| und Männer, die, eben, ein Bad nehmen. Ein bisschen seltsam ist das schon, | |
| der Text ergibt nicht immer Sinn. Es hat ihn, vielleicht ist das der Grund, | |
| ein Dichter geschrieben, sogar einer der größten amerikanischen | |
| Gegenwartsdichter, John Ashbery, ein Freund von Guy Maddin. | |
| Das also der Umweg, der zu dem führt, was man sieht: der Titel eines | |
| erfundenen Films, ein von diesem Titel inspiriertes Quasigedicht als | |
| Banalnarration, ein Film, der ziemlich akkurat aussieht, wie ein 1937 | |
| entstandener Film auf YouTube heute aussehen könnte. Und das alles zu einem | |
| provozierend banalen Thema: Wie man es richtig anstellt, ein Bad zu nehmen. | |
| Dabei fällt „Wie man ein Bad nimmt“ ziemlich heraus aus dem Ganzen. Weil es | |
| kein Stummfilm ist. Und weil alle anderen der Filme, die in „The Forbidden | |
| Room“ halluziniert werden, narrativen Charakter haben. Es wird von Figuren | |
| erzählt, und seien es Liebhaber, die sich in hässliche braune | |
| Aswang-Bananen verwandeln. | |
| ## Kreuz und quere Reise durch neue alte Filme | |
| Ein Spielort, der mehrfach auftaucht, ist ein Unterseeboot, dessen | |
| Mannschaft erstens keine Ahnung hat, wo der Kapitän abgeblieben sein mag. | |
| Und zweitens, das ist das größere Problem, haben sie ein Bombengelee an | |
| Bord, das explodieren wird, wenn sie über eine bestimmte Wassertiefe hinaus | |
| aufsteigen. Außerdem, als wäre das nicht schon genug, taucht plötzlich ein | |
| bärtiger Waldmann an Bord auf, von dem keiner weiß, wie er dort hinkommt. | |
| Für die Zuschauer freilich ist er ein Bindeglied, denn er wird der Mann | |
| sein, der in der Geschichte der „Roten Wölfe“ die Hauptrolle spielt: den | |
| Helden, der die entführte Margot am Ende den Händen der Räuber entwindet. | |
| Bis zu diesem Ende geht es allerdings noch über Stock und Stein, durch | |
| viele neue alte Filme hindurch, mit Wendungen, die keiner voraussieht, mit | |
| Abschweifungen, bei denen man zwischendurch glatt vergisst, wo man ist, wo | |
| man war und wo man womöglich noch hinwill. | |
| Einen Zugpsychiater lernt man kennen, einen entflohenen Häftling, um Mord | |
| und Totschlag geht es, um perverse Liebesgeschichten, Sex and Crime, ein | |
| ganzes Arsenal von Fantasien, mit denen sich Guy Maddin und Evan Johnson | |
| verlorene Filme ins Kino zurückgeträumt haben. | |
| ## Stummfilmfetisch und Freud‘sche Provenienz | |
| Maddin, das muss man wissen, ist ein profunder Kenner der Kinogeschichte, | |
| aber sein Verhältnis zu ihr ist hochgradig fetischistisch. Sein | |
| eigentlicher Fetisch: der Stummfilm. Wieder und wieder, in Kurzfilmen | |
| meist, wendet er sich von der Kinogegenwart ab und erfindet sich selbst das | |
| Stummfilmkino zurück. Es gibt wenig, was er dabei so sehr verachtet wie | |
| Realismus. Bei ihm ruckeln die Bilder, das Schauspiel ist outriert, | |
| Zwischentafeln erklären und liefern Dialoge. Alles wie früher. | |
| Noch dazu jagt eher das Unbewusste Freud’scher Provenienz durch seine | |
| Bilder als das klare Denken des Tages. So weit kennt man das, so weit fügt | |
| sich auch „The Forbidden Room“ in das Werk. Dass es Maddin gelungen ist, | |
| ein All-Star-Dream-Team der Arthouse-Darsteller zu versammeln, von | |
| Charlotte Rampling bis Mathieu Amalric, von Jacques Nolot bis Udo Kier, | |
| zeigt, wie weit er sich selbst inzwischen in den Kanon vorgearbeitet hat. | |
| Und doch ist „The Forbidden Room“ noch einmal anders. Die Tatsache, dass | |
| man nicht einfach in der Geschichte zurückkann, ist den | |
| Maddin-Stummfilm-Reimaginationen in ihrer ganzen Absurdität, im | |
| Übertriebenen und Grotesken all ihrer Züge immer schon eingeschrieben | |
| gewesen. Auch falsche Spuren des Verbrauchs, des Zerfalls des Bildmaterials | |
| gab es früher. Gemeinsam mit Evan Johnson treibt er das künstliche Altern | |
| der Bilder diesmal jedoch auf die Spitze. | |
| ## Die Anfälligkeit des Analogen für den Zerfall nachbauen | |
| Nicht nur in Bildausfällen und Ruckern, Kratzern oder Laufspuren. Im Grunde | |
| ist das Bild in „The Forbidden Room“ vielmehr in ständiger Auflösung | |
| begriffen, wirft Blasen, zerläuft, Gesichter verschwimmen, verwandeln sich | |
| unter den ungläubigen Augen des Betrachters. Was natürlich mit der | |
| Geschichte und den Geschichten selbst korrespondiert, von denen sich eine | |
| immer schon in eine andere transformiert, dann anderswohin weitererzählt | |
| wird, bis man, oft vier Substorys später, wieder dort ist, wo man, ohne | |
| sich ganz genau zu erinnern, schon einmal war. | |
| Diese Form von Vertigo befällt aber auch das Bild. Sein Zerfall ist an | |
| vielen Stellen geradezu konvulsivisch. Wie schmelzendes, sich ständig | |
| umschmelzendes Zelluloid, das unter der Projektorlampe durchbrennt und doch | |
| weiterläuft. Gerade weil man so etwas mit analogem Bildmaterial nicht | |
| anstellen kann, ist es schön. Und gerade weil Maddin und Johnson das | |
| Digitale mit Enthusiasmus ergreifen und vor allem eher ausstellen als | |
| verbergen, reißt es hin. In künstlichen datamoshingartigen Rechnereffekten | |
| bauen sie die Anfälligkeit des Analogen für den Zerfall nach. | |
| Es handelt sich aber keineswegs um historische Rekonstruktion, jene | |
| hanebüchene Haltung, mit der man heutzutage Stadtschlösser wiederaufbaut. | |
| Vielmehr ist das eine Liebe zum Alten, die mit einer Liebe zum äußersten | |
| Stand des heute Möglichen verschmilzt. Vielleicht Nostalgie, aber eine, die | |
| mit dem Wunsch nach Reinheit und Unverfälschtheit gar nichts zu tun hat. | |
| Die Aneignung ist so zart wie brutal. Sie rettet, indem sie erfindet. Und | |
| so, nur so ist es gut. | |
| 7 Apr 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Ekkehard Knörer | |
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