# taz.de -- Guy Maddin im Interview: "Man wird mich wegjagen" | |
> Nach zahllosen Filmen, für die er äußerst künstliche Bildwelten erfand, | |
> hat der kanadische Avantgardist Guy Maddin nun "My Winnipeg" gedreht, | |
> einen Film über seine Heimatstadt. | |
Bild: Guy Maddin ist einer der profiliertesten Filmemacher Kanadas | |
taz: Guy Maddin, Sie drehen seit Jahrzehnten Filme, die wirken, als hätten | |
sie sich aus einem vollkommen künstlichen Kosmos auf unseren Planeten | |
verirrt. Jetzt stellen Sie mit "My Winnipeg" erstmals ein Werk vor, das im | |
Untertitel behauptet, eine "Dokumentation" zu sein. | |
Guy Maddin: Nicht in einer Million Jahre hätte ich gedacht, dass ich mal | |
einen Dokumentarfilm drehen würde. Ich hatte viel zu viel Respekt vor dem | |
Genre. Vor dem Nichtinteresse und der Objektivität, die man dazu benötigt. | |
Vor all den Recherchen, die man betreiben muss. | |
Was hat Sie umgestimmt? | |
Ich war pleite und brauchte das Geld (lacht). Michael Burns, ein | |
Dokumentarfilmproduzent fürs kanadische Fernsehen, wollte mich schon länger | |
überreden. Ich hatte ihm immer abgesagt, rief ihn dann aber zurück. Mir war | |
egal, worum es gehen sollte. Er war es, der Winnipeg als Thema | |
vorgeschlagen hat. Ich hatte schon befürchtet, er wolle etwas über die | |
Bergbauindustrie von mir. Über Zinkminen oder so. | |
Aber ihm war schon klar, was für eine Art Film er bekommen würde? | |
Ja, er hat ausdrücklich gesagt: Mach etwas über dein Winnipeg. Verzaubere | |
mich. Ich hatte völlige Freiheit und musste zum Glück keinerlei historische | |
Forschungen anstellen und zu was Dokumentarfilmer sonst so verpflichtet | |
sind. | |
War es dennoch eine andere Erfahrung des Filmemachens? | |
Vor allem im Schneideraum war es etwas anderes. Die richtige Ordnung für | |
sein Material zu finden und dann langsam eine Erzählung dazu zu entwickeln, | |
ist ein sehr zeitaufwändiger Prozess. Ich wollte es eigentlich nur für die | |
Bezahlung machen, und auf einmal lag mir das Projekt so sehr am Herzen, | |
dass ich eigenes Geld hineingesteckt habe. Es ist immer dasselbe. | |
Ich zögere ja etwas, Sie zu fragen, was wahr und was ausgedacht ist von all | |
den Geschichten über Winnipeg. | |
Ach, was macht das für einen Unterschied? | |
Ich meine, haben Sie diese Legenden gehört oder sich selbst ausgedacht? | |
Ich habe sie gehört und sogar bestätigen lassen. Man findet all diese | |
Geschichten im Internet. Die unglaublichste von allen, der "Was wäre, | |
wenn"-Tag, ist eines der bestgehüteten Geheimnisse von Winnipeg. Das war | |
ein Ereignis in den Vierzigerjahren, als tausend falsche Nazi-Soldaten in | |
Verkleidung die Stadt erobert haben, um der Bevölkerung mal zu zeigen: Was | |
wäre, wenn ... Aber von den alten Einwohnern redet heute keiner darüber. | |
Kanadier sind solch lausige Selbst-Mythologisierer. Nur weil wir so nah an | |
den USA leben, glauben wir, unsere eigenen Geschichten wären es nicht wert, | |
erzählt zu werden. | |
Ist das Kino der moderne Ersatz für das Lagerfeuer, an dem wir uns | |
gegenseitig unserer Mythen versichern? | |
Über die Wahrheit im Kino hat einmal jemand geschrieben: In dem Moment, wo | |
du einen Bericht abliefern willst von egal welcher Begebenheit, vermischst | |
du Fakten und Fiktionen. Nur weil du es überhaupt erzählst. Wenn ich in | |
eine Geschichte kommen will, nehme ich dazu immer die Tür, über der | |
"Märchen" oder "Mythos" steht. Ich suche immer nach dem Zeitlosen. Nach | |
dem, was vor dreitausend Jahren dasselbe bedeutet hätte. Ich glaube, wir | |
haben uns nicht so sehr verändert. Wir machen immer noch Höhlenmalerei. | |
Die Scherenschnitte in ihrem Film erinnern ja auch an diese Ursituation: | |
als hätte man eine Lichtquelle, etwa ein Feuer, und Figuren, die Schatten | |
an der Wand werfen. Das beschreibt das Prinzip von Kino überhaupt. | |
Ja, Kino ist Licht und Nicht-Licht. | |
Das Internet haben wir ja schon erwähnt. Mit all den Nachrichtenkanälen, | |
die uns heute zur Verfügung stehen, werden sich die Mythen noch schneller | |
verbreiten. | |
Das ist wie bei dem Kinderspiel, der Stillen Post. Und ich glaube: Je | |
stärker die Botschaft verändert wird, desto wahrhaftiger wird sie. Umso | |
mehr wird sie ein Destillat unserer Wahrheit. Ob Tausendundeine Nacht oder | |
das Neue Testament: Diese Geschichten sind millionenfach durch die Stille | |
Post gegangen, dadurch wurden sie hart wie Diamanten. Und so geheimnisvoll, | |
dass wir sie nicht mehr verstehen. Aber wir mögen sie immer noch, weil sie | |
den Test der Zeit bestanden haben. | |
Im Begleittext zu "My Winnipeg" schreiben Sie, dass Sie enttäuscht sind | |
über die Entwicklung, die die Stadt, in der Sie aufgewachsen sind, genommen | |
hat. | |
Ich habe anfangs nie zwischen meinem Zuhause und der Stadt unterschieden. | |
Ich habe mir als Kind ständig ausgemalt, wie die Zukunft wohl aussehen | |
würde. Dann habe ich allmählich begriffen, dass die Zukunft wohl nicht so | |
sein wird, wie ich dachte, und dass die Vergangenheit endgültig vorüber | |
ist. Jetzt fühle ich mich in gewisser Weise ohne Anker. Ich treibe weg von | |
allen möglichen Dingen, die mir einmal sehr viel bedeutet haben. Manchmal | |
bin ich verbittert, manchmal traurig deswegen. Und manchmal empfinde ich | |
nur Heimweh. | |
Wurde der Film schon in Winnipeg aufgeführt? | |
Nein, noch nicht. Erst im kommenden Juni ist es so weit. Ich vermute, man | |
wird mich aus der Stadt jagen. | |
11 Feb 2008 | |
## TAGS | |
Spielfilm | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Filmstart „The Forbidden Room“: Alles wie früher, nur übertrieben | |
Das Bild wirft Blasen, zerläuft. „The Forbidden Room“ von Guy Maddin ist | |
ein Film aus Filmen, die nicht mehr existieren – oder nie existiert haben. |