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# taz.de -- Tatarin über die Lage auf der Krim: „Ein Territorium der Angst“
> Vor etwa zwei Jahren annektierte Russland die Krim. Seither dokumentiert
> Tamila Tasheva mit ihrer Initiative „KrimSOS“ zahlreiche
> Menschenrechtsverletzungen.
Bild: Nicht alle haben Angst: Auf dem Roten Platz in Moskau wird am 18. März d…
taz: Frau Tasheva, wozu haben Sie KrimSOS gegründet?
Tamila Tasheva: Am Tag der Annexion im Februar 2014 traf ich mich mit
anderen Leuten von der Krim in Kiew. Obwohl wir alle stündlich in Kontakt
mit unseren Familien auf der Halbinsel standen, kapierten wir nicht mehr,
was dort lief. Spontan haben wir die Internetplattform KrimSOS gegründet,
um Zeugenaussagen aus der Heimat zu sammeln. Bald kamen die ersten
Flüchtlinge von dort zu uns. Heute organisiert KrimSOS – mit vier Büros im
Land, 60 festen Mitarbeitern und Hunderten Ehrenamtlichen – Hilfe für etwa
700.000 Binnenflüchtlinge, auch aus der Ostukraine.
Wovor flüchten denn so viele von der Krim?
Die Krim ist jetzt ein Territorium der Angst. Offiziell gelten russische
Gesetze, doch sie werden willkürlich angewandt. Die Krim-Staatsanwaltschaft
klagt alle möglichen Oppositionellen wegen „Extremismus“ an. Wir bauen
gerade auf unserer Homepage eine interaktive, mehrsprachige Karte der
zahlreichen Menschenrechtsverletzungen dort auf. Die treffen nicht nur
Krimtataren, aber diese besonders.
Warum gerade die TatarInnen?
Am Tag vor der Annexion haben 10.000 Krimtataren in Simferopol
demonstriert: gegen einen sogenannten Anschluss an Russland. Moskaus
Pro-Referendum hat später die überwältigende Mehrheit unseres Volkes
boykottiert. Schließlich mussten wir in der russisch dominierten
Sowjetunion 1944 unter Stalin die Erfahrung machen, dass unser gesamtes
Volk aus seiner Heimat deportiert wurde. Seit dem Referendum haben uns die
russischen Behörden verboten, einige für uns traditionelle Feiertage
öffentlich zu begehen, weil sich dabei angeblich zu viele Leute versammeln.
Was geschieht, wenn man sich gegen die Annexion wehrt?
Wir haben es mit Dutzenden von Entführungen und Freiheitsberaubungen zu
tun. Vor allem junge Männer verschwinden spurlos. Im März 2014 fand man den
krimtatarischen Aktivisten Reschat Ahmetow. Männer in Tarnanzügen hatten
ihn bei einer Mahnwache festgenommen. Er wurde tot mit zahlreichen
Stichwunden aufgefunden, ein Auge fehlte, über den Kopf hatte man ihm eine
Plastiktüte gestülpt.
Wer sind die Täter?
Polizei und Geheimdienstangehörige machen sich schon dadurch schuldig, dass
sie auch gut dokumentierte Verbrechen nicht verfolgen. KrimbewohnerInnen
nehmen für uns mit Handys und Tablets laufend Tatorte und Zeugenaussagen
auf, für Anwälte und internationale Gerichtshöfe. Demnach sind die
inoffiziellen, aus russischen Männern bestehenden, sogenannten
Selbstverteidigungskräfte dabei besonders aktiv. Vor aller Augen führen sie
gewalttätige Razzien auf tatarischen Märkten und in unseren Wohnvierteln
durch, zerschlagen Fenster, treten Türen ein.
Was unternehmen die Führer des Medschlis, des von der Ukraine anerkannten
Vertretungsorgans der Krimtataren?
Wer auf der Krim nicht als Ausländer gelten will, musste die russische
Staatsbürgerschaft annehmen. Der Vorsitzende des Medschlis, Refat
Tschubarow, und sein Vorgänger Mustafa Dschemiljew, der bekannte
Sowjetdissident, weigerten sich. Sie erhielten daraufhin im Frühjahr 2014
vom russischen Föderalen Migrationsdienst für je fünf Jahre Einreiseverbote
auf die Krim. Bald darauf versuchte Dschemiljew es trotzdem. Doch er wurde
von russischen Omon-Sondereinheiten am Kontrollpunkt Armjansk gestoppt.
Tausende seiner Anhänger von der Krim waren dorthin geströmt. Um die 200
von ihnen wurden später wegen Teilnahme an einer nicht sanktionierten
Demonstration zu Geldstrafen verurteilt.
Wie steht es heute um Ihre politische Vertretung?
Der Medschlis darf sein Gebäude, eine alte Villa in Simferopol, nicht mehr
nutzen, aufgrund eines Beschlusses des Zentralen Simferopoler
Bezirksgerichts. Jetzt schwebt ein Verfahren der Krim-Staatsanwaltschaft
mit dem Ziel, ihn als „extremistische Organisation“ verbieten zu lassen.
Moskau hat einige Parallelorganisationen für Krimtataren gegründet. Zulauf
genießen sie aber bisher nur von einer Handvoll von Leuten. Der Präsident
der Ukraine hat Mustafa Dschemiljew zu seinem Berater für Angelegenheiten
des krimtatarischen Volkes ernannt.
Wie kommunizieren die Krimtataren unter diesen Bedingungen?
Das Internet wird rigide überwacht. Junge Leute spricht man bei Vorladungen
zum russischen Geheimdienst FSB gern auf konkrete Internetkontakte an.
Einem gläubigen jungen Muslim legten FSBler sogar seine gesamte
Internetkorrespondenz ausgedruckt vor. Er konnte von der Krim fliehen.
Und was ist mit den Massenmedien?
Die Lizenzen aller Zeitungen und Sender auf der Krim wurden von der
Russischen Kontrollbehörde für Kommunikation annulliert und mussten neu
beantragt werden. Dabei fielen alle krimtatarischen Medien durch. ATR,
unsere einziges Erwachsenen-TV, sendet jetzt über Satellit vom ukrainischen
Festland aus.
Warum haben die Krimtataren ab August 2014 Lebensmittellieferungen aus der
Ukraine auf die Krim blockierten?
Das waren Bürgeraktionen, an denen sich auch Ukrainer beteiligten. Sie
richteten sich gegen ein ukrainisches Gesetz vom August 2014: über die
Gründung einer freien Wirtschaftszone auf der Krim. Es ermöglichte einigen
ukrainischen Geschäftsleuten, sich steuerfrei an Lebensmittellieferungen zu
bereichern. Die landeten meist gar nicht auf der Krim, sondern wurden nach
Russland umgeleitet. Dasselbe Gesetz erklärte alle Menschen, die bis zu
einem bestimmten Stichtag auf der Krim polizeilich gemeldet gewesen waren,
zu „Nichteinwohnern“ der Ukraine. Deshalb kann ich bis heute in Kiew kein
Bankkonto eröffnen.
Und wer kappte die Stromleitungen vom ukrainischen Festland zur Krim im
November 2015?
Das kann ich nicht sagen. Nur, dass die Aktion unter den Krimtataren auf
große Zustimmung stieß. Russland führt gegen die Ukraine Krieg. Der Strom
ging vorrangig an russische Militärbasen auf der Krim. Und die könnten uns
auf dem Festland angreifen.
Haben diese Aktionen etwas bewirkt?
Die ukrainische Regierung hat inzwischen selbst ein Embargo über
Warenlieferungen auf die Krim verhängt. Sie verzichtete auch darauf, alle
drei gekappten Stromleitungen wieder herzustellen, bloß eine – aus
humanitären Gründen. Außerdem entwickelt sie endlich einen
Deokkupationsplan für die Krim.
Wie lebt man auf der Krim mit den Blockaden?
Die Lebensmittel aus Russland reichen. Doch der Strom wird vier bis fünf
Stunden am Tag abgeschaltet. Natürlich sind viele unzufrieden. Aber meine
Eltern und deren Nachbarn bleiben gelassen und meinen: Schaltet ruhig ab,
wir halten schon durch!
Wie steht es um die kulturelle Autonomie Ihres Volkes?
Russland hat die Krim ja unter dem Vorwand annektiert, dort die russische
Sprache zu schützen. Offenbar muss man nun zu diesem Zweck alle anderen
Sprachen unterdrücken. In den Schulen wurden alle krimtatarischen
Schulbücher konfisziert, sogar für Mathematik und natürlich für Geschichte.
Neue gibt es nicht. Gar keine!
Hoffen Sie auf irgendwelche Hilfe?
Ein paar permanente Beobachter internationaler Organisationen wären auf der
Krim nützlich. Außerdem sollte die Europäische Union mit ihren
Wirtschaftssanktionen gegen Russland nicht nachlassen. Sie setzen der
Regierung dort stark zu und helfen allen, die für Menschenrechte kämpfen –
in Russland wie in der Ukraine.
5 Apr 2016
## AUTOREN
Barbara Kerneck
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