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# taz.de -- Erregungskurve: Das Interesse am Täter: Lust am Grausamen
> Ein Roman, ein Musical, ein Buch: Drei Versuche über Verbrecher und die
> Orte ihrer Verbrechen.
Bild: Lesung im „Goldenen Handschuh“: Heinz Strunk liest über den Frauenm�…
HAMBURG taz | Ich erinnere mich noch gut an die leuchtenden Augen meines
Vaters, wenn er, das Haar zerzaust, das ungepflegt bärtige Kinn erhoben,
genüsslich die ersten Akkorde des „Kriminaltangos“ auf seiner Gitarre
anschlug.
Der Abend war da meistens schon spät und die Gäste nicht mehr nüchtern. Vom
Diskutieren über die Hamburger SPD, in der mein Vater Mitglied war, und
ihre Haltung zur Atomkraft ging man nun mit glasigen Augen und schwerem
Kopf zu jenem Part über, wo man nicht mehr dachte, sondern nur noch
mitmachte.
Die Stimme meines Vaters gurgelte, er sog allen Saft aus seiner
biergeschwängerten Kehle, um seine Freude am Dunklen, Verborgenen,
Verwegenen auszuleben:„Kriminaltango in der Taverne,/ dunkle Gestalten,
rote Laterne./ Glühende Blicke, steigende Spannung,/ und in die Spannung,
da fällt ein Schuß.“
## Faszinierende Lust
Ich fand seine Lust faszinierend, konnte kaum genug davon kriegen. Es war
wie Verkleiden. Er war nicht mehr der rationalisierende Denker, der –
Helmut Schmidt nachahmend – sich nicht großartig von Gefühlen lenken ließ.
Er hatte sich in einen Bänkelsänger verwandelt, der in die emotionalen
Abgründe menschlichen Daseins stieg. Bei der Zeile „Und sie tanzten einen
Tango“ wechselte er von der fiesen Stimme in die harmlose, als ob nichts
wäre.
Noch schlimmer wurde es, wenn der Bänkelsänger Lied Nummer zwei anstimmte,
um das ich, kaum, dass der Kriminaltango verklungen war, bettelte, als
ginge es um Leben und Tod. Ging es ja auch. Lied Nummer zwei war „Der
Tantenmörder“ von Frank Wedekind, das bei uns unter dem Namen „Ich habe
meine Tante geschlachtet“ lief. Die Stimme meines Vaters wurde zur Säge und
in meinem Kinderkopf tauchte schon die Frage auf, ob das nicht doch etwas
zu brutal war.
Aber auch ich verspürte diese ungeheure Lust am Grausamen – im Lied. Wenn
der Sänger, mein anderer, dunkler Vater, mahnte, nur wegen einer
altersschwachen Tante doch nicht der blühenden Jugend nachzutrachten,
verlangte ich nach dem nächsten Song: „Aber der Nowak …“ Diese Hommage an
das lasterhaften Leben stimmte mich traurig, weil ich wusste, dass die
dunkle Sehnsucht, „in der Gosse zu liegen, sich sinnlos zu besaufen und mit
Freudenmädchen zu raufen“, gleich eine deutliche Abkühlung erfahren würde,
denn nach dem Nowak war Degenhardt dran. Mochten seine „Schmuddelkinder“
auch noch sehr den Mädchen unter die Röcken schielen und auf Kämmen
pfeifen, an die Befreiungskraft der Tantenmörder- und Tangotänzersongs
kamen die politischeren Lieder in meinen Kinderohren nicht heran.
Ich musste dann ins Bett und hörte „Komm sing mir mal ein schönes Lied“ n…
noch durch die dicken Wände, die Wohn- und Schlafzimmer voneinander
trennten. Manchmal kramte ich dann noch aus der Kiste für Brennmaterial
alte Zeitungen heraus, am liebsten die Bild (die bei uns natürlich nur als
Anzünder benutzt wurde) und folgte den in Blutrot gesetzten
Schreckensnachrichten bis in die hintersten Seiten, wo barbusigen Frauen
sich mit unscharfen Fotos von dunklen Gestalten den Platz teilen mussten.
Oh, was für eine unvergleichliche Mischung! Gangster, Prostituierte,
Bankräuber – das waren meine heimlichen Helden! Vor allem die, die mit Sinn
für die empfindlichen Stellen der bösen Reichen diesen ihr heiligstes Gut
abknöpften, Geld – das waren die Richtigen!
## Perfekter Bankraub
Dem Kindesalter knapp entronnen plante ich mit einem Freund aus der
Teestube der Melanchtonkirche den absolut perfekten Bankraub, den wir erst
in 20 Jahren begehen würden. So lange würden wir uns nicht sehen, sodass
keiner eine Verbindung zwischen uns herstellen konnte. Nun, unser Plan war
so gut, dass auch wir diese Verbindung nach 20 Jahren nicht wieder
herstellen konnten. Nicht einmal an den Namen meines Komplizen kann ich
mich erinnern, ich weiß nur noch, dass ich ihn ziemlich klasse fand.
Betrachtet man das Gemäuer der Teestube (heute
Johannes-Brahms-Konservatorium) von außen, käme man nicht auf die Idee,
dass hier die Söhne und Töchter Flottbeks nach Wegen raus aus dem
langweiligen legalen Leben (wie das schon klingt!) suchten. Wir haben
damals nicht nur gedacht, sondern auch gemacht: Von schönen Haarklammern
(beliebt: die mit den Früchten) bis hin zu V-Pullovern erbeuteten wir auf
unseren Ausflügen zum Wochenmarkt- und zum Elbe-Einkaufszentrum alles,
womit man einigermaßen angeben konnte. Wir hielten dicht wie die
unscheinbaren Mauern der Melanchtongemeinde.
Es kam auch nie was raus, aber selbst wenn, hätten wir wohl kaum Aufnahme
in den illustren Kreis kriminell begabter Männer und Frauen gefunden, die
das im April erscheinende „Schwarze Hamburg Buch“ mit dem klirrend
klingenden Untertitel „Mord, Skandal, Gewalt und Schrecken in der schönsten
Stadt der Welt“ versammelt.
Ich brauchte ein bisschen, um reinzukommen. Aber dann hat mich das Buch
erobert und mir inmitten politischer Identitätskrise ein Gefühl dafür
zurückgegeben, dass der Boden, auf dem ich groß wurde, nicht irgendeiner,
sondern ein Hamburger Boden war, der seine eigene, sehr spezifische
Geschichte hat. Nur, dass man sie eben kaum sieht.
## Nach Hanseatenart
Auch die Verbrechen einer Stadt verschaffen ihr eine Identität. Die
Identität, die sich durch den Umgang mit ihnen bildet. Und der Hamburger
Umgang, zumindest der offizielle, scheint, ganz nach Hanseatenart,
Understatement-mäßig zu lauten: Lass Gras drüber wachsen. Das jedenfalls
suggerieren die Fotos des Schwarzbuches, die nicht die Untaten zeigen,
sondern die Unorte, an denen sie begangen wurden. Schwarz-Weiß-Bilder von
einer Blutbuche, einem Verkehrsschild mit dem Hinweis „Rettungsweg“, einem
Graffito auf einer Mauer mit dem Slogan „Sieh die Wahrheit“, einem
Geländerteil der Eimsbütteler Brücke. Nichts Aufsehenerregendes, möchte man
meinen. Verbunden mit den dazu erzählten, weiß auf schwarz gedruckten
Geschichten aber bekommt jeder hier erwähnte Stein und Grashalm seine
Bedeutung in der Verbrechenshistorie der Stadt. Die Blutbuche in der
Brennerstraße 81, Hinterhof, die ein Impfarzt vor etwa 200 Jahren an die
Stelle des letzten Richthofs von St. Georg pflanzte. Das heißt, hier
rollten Köpfe im sprichwörtlichen Sinne. Nur kurz zeigt die Buche ihre
blutrote Blütenpracht, nämlich im Sommer, dann aber wird sie grün.
## Gift von Boehringer
Grün sind auch die Wiesen auf dem Energieberg Georgswerder – auch ein Ort
der falschen Idylle, birgt der schöne Berg doch das gefährlichste Gift der
Welt: 4, 5 Kilogramm Dioxin. Eine Dosis, die reichen würde, um ganz
Schleswig Holstein zu verseuchen. Ein paar Kilometer weiter, in der
Andreas-Meyer-Straße unter einer 80.000 Quadratmeter großen Asphaltfläche
gibt’s noch mehr davon. Zu verdanken ist das dem Boehringer Konzern, der
für das US-Unternehmen Dow Chemical Komponenten des Pflanzengifts „Agent
Orange“ herstellte, das dann die Armee einsetzte – naja, kennt man ja. Der
Boehringer-Konzern vertuschte wie üblich lange seine Entsorgungspraktiken,
Mitglied der Geschäftsführung war damals Richard von Weizsäcker – ja, wir
tanzen unseren Tango und tun so als ob nix gewesen wär’.
Dann ist da dieses Foto von dem komischen Geländer der Eimsbütteler Brücke.
Sind das nun Hakenkreuze, die seine unauffällige Erscheinung zieren, oder
nicht? Nein, wahrscheinlich hat man einfach nur zu viele Hakenkreuzfilme
gesehen; dann der Hauseingang der Zeißstraße 74, Ottensen: Zwei ungleiche
Augen sind auf das Fenster der Parterrewohnung geklebt, sie scheinen die
Neugier abwehren zu wollen, die beim Flanieren den Blick ins Innere der
Wohnungen steuert. Schielende Augen hatte auch der Mann, der hier vier
Frauen tötete: Honka, als Kind von KZ-Insassen in Kinderheimen
aufgewachsen, zuletzt Nachtwächter. Die Frauen, alle wohnungslos, sollen
ihm nicht gefügig genug gewesen sein. Keine von ihnen wurde vermisst.
Honka zersägte ihre Leichen und bewahrte sie jahrelang in seiner Wohnung
und auf dem Dachboden in Plastiksäcken auf. Der Gestank fiel den Mietern
schon auf, aber man schrieb ihn der Einfachheit halber den damals im Haus
wohnenden Ausländern zu, die immer mit so komischen Gewürzen kochen. Ja, so
schlachtet man seine Tanten.
Aber kann man denn all die Genannten in einen Topf schmeißen? Ich denke,
was die kulturell tradierte Erinnerungsarbeit betrifft, fällt die schon
unterschiedlich aus, je nach Verbrechen oder je nachdem, ob man eine Bank
ausraubt oder besitzt. Das größere Verbrechen ist natürlich letzteres.
Könnte man es denn ähnlich besingen wie den Tantenmörder oder die
Tangotänzer? Nein: Zu Ikonen werden nur die ganz großen Kleinen, die ganz
kleinen Großen aber – die vergessen wir lieber.
Nur die Pflastersteine und Wiesen, Gemäuer und Brückengeländer wissen dann
noch, dass nicht alles ist, wie es scheint. Könnten sie sprechen, sie
würden uns schöne Lieder singen.
25 Mar 2016
## AUTOREN
Sabine Schönfeldt
## TAGS
Kriminalität
Literatur
Verbrechen
Schwerpunkt Femizide
Pflanzenschutzmittel
Umweltverschmutzung
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