| # taz.de -- Ein- und Auswanderer in Apulien: Das Staunen der Welt | |
| > Fernab der Strände zeigt die italienische Region Apulien ihr weltoffenes | |
| > Gesicht. Schon Stauferkönig Friedrich II. ließ dort arabische Handwerker | |
| > ansiedeln. | |
| Bild: Holzboote im Hafen von Bari | |
| In Apulien beginnen alle großen Reisen am Meer. So war es auch bei Sabino | |
| Rutigliano, als er vor über 50 Jahren nach Amerika aufbrach. Mit Hunderten | |
| von anderen Auswanderern stieg er in Bari auf ein Schiff und kam nicht | |
| wieder. „Ich wollte an die Universität und hatte dort mehr Möglichkeiten“, | |
| sagt er. In den USA studierte er Wirtschaft und arbeitete viele Jahre als | |
| Angestellter der Stadt New York. Als er fortging, war er gerade 20 Jahre | |
| alt. | |
| Heute hat er einen grauen Bart und betreut das Immigrationsmuseum seiner | |
| Heimatstadt Mola di Bari an der Adriaküste, da, wo der italienische | |
| Stiefelabsatz beginnt. Er winkt eine Schulklasse zum Eingang der weißen | |
| Burg am Meer, wo das Minimuseum mit Dokumenten, Videos und den | |
| Habseligkeiten der Auswanderer des Ortes eingerichtet wurde. Die | |
| Apulierinnen und Apulier sind seit hundert Jahren in die ganze Welt | |
| gewandert, vor allem aber nach Nord- und Lateinamerika, Kanada und | |
| Australien. In Europa leben die meisten Emigrantenfamilien heute in | |
| Deutschland, aber auch in der Schweiz, in Frankreich und Belgien. | |
| Wenn Sabino Rutigliano erzählt, wechselt er von Italienisch auf Englisch | |
| und zurück. Nach dem Tod seiner amerikanischen Frau war er im Jahr 2005 | |
| nach Mola di Bari zurückgekommen, um Ferien zu machen, und dann ist er | |
| geblieben. Aber seine Geschichte hat er nicht vergessen und er will auch | |
| nicht, dass die anderen dies tun. Er glaubt, dass der Tourismus für die | |
| junge Generation eine wirtschaftliche und kulturelle Chance ist. | |
| Als Präsident des städtischen Tourismusvereins Pro Loco bezieht er | |
| Schulklassen in Projekte mit ein, bei denen es um lokale Traditionen und | |
| ihre eigene Geschichte geht. „Ich möchte, dass sie verstehen, woher sie | |
| kommen. Das ist die beste Impfung gegen Rassismus und Unverständnis über | |
| die Flüchtlinge, die heute von der anderen Seite des Meeres zu uns | |
| übersetzen“, erklärt er. Gastlichkeit gilt für alle, findet der ehemalige | |
| Auswanderer. Nicht nur für Touristen. | |
| Das Schockerlebnis für die Bewohner der Küste von Bari war im August 1991 | |
| die Landung des Frachters „Vlora“ mit 20.000 albanischen Flüchtlingen an | |
| Bord. „Damals haben die Leute hier verstanden, dass ihr Auswandererland nun | |
| auch ein Einwandererland geworden ist“, sagt Rutigliano. Die Regierung in | |
| Rom war überfordert, die Menschen vor Ort haben pragmatisch geholfen – wie | |
| heute auf der Flüchtlingsinsel Lampedusa. Die meisten Albanerinnen und | |
| Albaner sind geblieben. Sie bilden heute die weitaus größte | |
| Einwanderergruppe in Apulien, gefolgt von Migranten aus Marokko, China, | |
| Rumänien, Tunesien, Ukraine und Polen. | |
| ## Arabische Handwerker und Baumeister | |
| Die ersten „Immigrantenviertel“ der Region befinden sich in Altamura – im | |
| Landesinneren, nahe der Höhlenstadt Matera. Hier hat der Stauferkönig | |
| Friedrich II., Bauherr zahlreicher Schlösser und Festungen, im Jahr 1232 | |
| die einzige Kirche seines Lebens bauen lassen: die Kathedrale Santa Maria | |
| Assunta. Um die Kirche entstanden Wohnviertel im Stil der arabischen Medina | |
| mit claustri, geschlossenen und geschützten Wohneinheiten mit mehreren | |
| Häusern, engen Gassen und einem kleinen Innenhof. Hier siedelte der König | |
| während des Baus der Kathedrale arabische Handwerker und Baumeister an. In | |
| den claustri, die teils heute noch bewohnt sind, lebten Araber, Juden, | |
| Griechen und lateinstämmige Bevölkerungsgruppen. Jeder in seinem Viertel | |
| und mit eigener Religion, aber dennoch miteinander in derselben Stadt. | |
| Die Altamurani sind – wie die meisten Apulier – stolz auf „ihren“ | |
| Stauferkönig, der hier angeblich von der Pest geheilt wurde. Besonders | |
| schätzen sie das Flair der Weltoffenheit, mit der er ihre kleine Stadt | |
| umgibt und die ihm schon im Mittelalter den Namen stupor mundi, Staunen der | |
| Welt, einbrachte. Auch die lokale Küche profitiert eindeutig von der | |
| multikulturellen Tradition. | |
| Berühmt ist Altamura aber vor allem für das Brot aus Hartweizenmehl, das | |
| von den Getreidefeldern der umliegenden Hochebene Murge stammt und dem Teig | |
| die typische gelbe Farbe verleiht. Die verschiedenen Formen des Urtyps mit | |
| dem arabisch anmutenden Namen U sckuanéte werden bis heute in Holzöfen | |
| gebacken. „Das Rezept ist seit Jahrhunderten unverändert geblieben“, | |
| erklärt Nunzio Ninivaggi, bei dem man frühmorgens einen warmen Laib in der | |
| Backstube abholen kann. | |
| Auch weiter im Süden, auf dem Weg nach Taranto, finden sich Spuren einer | |
| Vergangenheit, in der Apulien eine Brücke zwischen Orient und Okzident war. | |
| Charakteristisch für das gesamte Gebiet der Murge sind Erdkluften und | |
| Grotten, die sogenannten gravine, die sich durch die Erosion von | |
| Wasseradern in den Felsen gebildet haben, ähnlich wie die amerikanischen | |
| Canyons. | |
| ## Schutz vor Eroberern | |
| Im frühen Mittelalter wurden viele Grotten zu Wohnhäusern ausgebaut, die | |
| über Gänge und Plätze miteinander verbunden und sogar mit Ställen und | |
| Apotheken ausgestattet waren. Diese sogenannten Felsdörfer oder villaggi | |
| rupestri wie Petruscio oder Casalrotto boten gleichzeitig sozialen | |
| Zusammenhalt und Schutz vor den vielen Eroberern, die in den letzten | |
| tausend Jahren durch das Land streiften. | |
| Ein besonderes Phänomen sind die chiese rupestre: Grotten, die von | |
| byzantinischen Mönchen zu Felskirchen ausgebaut und mit Fresken der | |
| orthodoxen Lithurgie ausgeschmückt wurden. In der Nähe von Mottola liegt | |
| die besonders prachtvoll ausgestattete Chiesa S. Nicola, die deshalb auch | |
| die sixtinische Kapelle der Felskirchen genannt wird. Sie geriet später | |
| unter die Domäne der Benediktiner, die sie ihrerseits nach eigenem Gusto | |
| ausstatteten. Geblieben ist das friedliche Nebeneinander der Bilder des | |
| Heiligen Nikolaus in orthodoxer und christlich-römischer Version. | |
| Der Reiseführer, ohne den wir die versteckte Grotte nicht gefunden hätten, | |
| entdeckt unter dem byzantinischen Nikolaus einen Rosenkranz und ein | |
| Gebetsbuch in russischer Sprache. „Die ukrainischen und russischen | |
| Immigranten, die hier leben, kennen die Grottenkirchen und kommen zum | |
| Beten“, erklärt er. Es ist ihre Kultur, die schon mal dagewesen ist. | |
| ## Zurück in die Heimat | |
| Geschichten von Ein- und Auswanderern gibt es hier in jedem Ort. Die | |
| Auswanderer sind ihrer Heimat treu, viele kommen zurück und wollen ihre | |
| Geschichte aufarbeiten. Dafür gibt es Gelder aus dem EU-Förderprogramm | |
| „Leader“. Projekte wie das Immigrationsmuseum in Mola gibt es inzwischen in | |
| mehreren Orten – auch im Salento, am Ende des Stiefelabsatzes. | |
| Von hier sind in den 1950er und 1960er Jahre viele Männer nach Belgien | |
| gezogen, um sich als Minenarbeiter zu verdingen. Als 1956 bei dem | |
| Minenunglück von Marcinelle 262 Arbeiter ums Leben kamen, waren darunter | |
| 136 Italiener und 15 Einwanderer aus dem Salento. Die überlebenden | |
| Rückkehrer treffen sich bis heute. | |
| Allerdings haben es auch die 20-jährigen Apulierinnen und Apulier von heute | |
| nicht leicht. Die Arbeitslosenquote der Jugendlichen ist inzwischen auf 60 | |
| Prozent gestiegen. Alle Hoffnungen liegen jetzt auf dem Tourismus. Doch der | |
| konzentriert sich auf die Badestrände und auf die Sommersaison und wirft | |
| sonst noch zu wenig ab. Deshalb machen sich viele wieder auf nach Amerika. | |
| Jetzt allerdings mit dem Flugzeug. | |
| 19 Mar 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Michaela Namuth | |
| ## TAGS | |
| Reiseland Italien | |
| Migration | |
| Reiseland Schweiz | |
| Fähre | |
| Reiseland Italien | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Die Schweiz und das Burkaverbot: Der Araber hat es gern flach | |
| In Interlaken, wo immer mehr arabische Gäste Ferien machen, wird über das | |
| Burkaverbot gestritten. Für Touristen könnte es Ausnahmen geben. | |
| Schiffsunglück vor Griechenland: Mehr als die Hälfte gerettet | |
| Hubschrauber haben 251 Menschen von der brennenden Fähre geholt. Mehr als | |
| 200 Passagiere müssen weiter in dichtem Rauch auf dem Schiff ausharren. | |
| Adria-Rundreise: Das Illy-Meer | |
| Bis in die Neuzeit war die Adria ein venezianisches Meer, dann ging es | |
| epochenweise bergab. Und heute? Eine Umrundung in fünf Etappen. | |
| Ausfall des Regierungschefs: Berlusconi nennt Italien "Scheißland" | |
| Er wolle sein Land, das ihn anekele, bald verlassen, sagte Silvio | |
| Berlusconi am Telefon. Jetzt beschwichtigt der Regierungschef. Es geht um | |
| Falschaussagen und mutmaßliche Erpressung. | |
| Rassismus im Dorf Rosarno: Alle Afrikaner vertrieben | |
| Anschlag, Krawalle, Treibjagd: Italienische Behörden und Bürger vertreiben | |
| mehr als 1000 afrikanische Arbeitsimmigranten aus dem Dorf Rosarno. Jetzt | |
| herrscht Feierlaune. |