# taz.de -- Daten über Forschung und Forscher: Die Vermessung der Wissenschaft | |
> Der neue „Kerndatensatz Forschung“ regelt, was über Wissenschaftler und | |
> ihre Arbeit gespeichert wird. Kritiker befürchten Fehlanreize. | |
Bild: Vermessen | |
Als Ende Januar das wichtigste wissenschaftspolitische Beratungsgremium | |
Deutschlands, der Wissenschaftsrat, die Spezifikation „Kerndatensatz | |
Forschung“ verabschiedete, erregte dies so gut wie keine Aufmerksamkeit. | |
Kaum ein Forscher dürfte wissen, was sich hinter dieser Bezeichnung | |
verbirgt. Doch könnte es mit über ihre Zukunft entscheiden: Er legt die | |
Standards fest, welche Daten über Wissenschaftler und ihre Leistungen | |
zukünftig erfasst werden. | |
Da diese leichter verglichen werden können als der eigentliche Inhalt | |
wissenschaftlicher Arbeit, könnten Drittmittelanträge schnell anhand der | |
Zahlen vorausgewählt werden – oder bei Berufungen nur diejenigen eingeladen | |
werden, die gut abschneiden. | |
„Wahrscheinlich sind alle Akteure des Wissenschaftssystems in irgendeiner | |
Form von diesem Projekt betroffen“, sagte Sophie Biesenbender vom Institut | |
für Forschungsinformation und Qualitätssicherung (iFQ) in Berlin, als sie | |
im Jahr 2013 das Vorhaben vorstellte, Informationen über Universitäten und | |
Forschungsinstitute in ganz Deutschland zu vereinheitlichen. | |
Schon jetzt wird wissenschaftliche Leistung von einzelnen Professoren, | |
Lehrstühlen und ganzen Hochschulen immer mehr über Zahlen gemessen und | |
verglichen. Beispielsweise ist bei Publikationen oft weniger der Inhalt als | |
ihre Anzahl entscheidend. Bei der Vergabe von Lehrstühlen zählt zunehmend | |
der berechnete „Impact“ von Artikeln, der daran gemessen wird, wie oft | |
andere Beiträge in der jeweiligen Fachzeitschrift zitiert werden. | |
Auch bei der Verteilung von Forschungsgeldern entscheiden oft simple Zahlen | |
– wie die Menge an Drittmitteln einer Arbeitsgruppe oder der Anteil | |
weiblicher Forscher oder die Zahl der Doktoranden. So bei der | |
„Leistungserfassung in Forschung und Lehre“, die an der TU Berlin mit über | |
Ausstattung und Besoldung von Professoren bestimmt. Ein Teil der Erhebungen | |
veröffentlichen die Hochschulen selbst im Netz. In welchem Fachbereich die | |
meisten weiblichen Promovenden sind oder welche TU-Lehrstühle 2013 die 179 | |
Millionen an Drittmitteln einwarben, hingegen nicht. | |
## Vereinfachte Auswerteprogramme | |
Die Einführung des neuen Standards erfolgte still und leise. „Klar ist, | |
dass wir zukünftige Wissenschaftsgenerationen so sozialisieren, dass sie | |
kontinuierlich gemessen werden“, sagt Matthias Winterhager von der Uni | |
Bielefeld, der an der Entwicklung des Kerndatensatzes beteiligt war. Die | |
Betroffenen würden kaum erkennen, dass der derzeit unverbindliche Standard | |
bald bindend wird und für Karrieren Folgen haben. Auch Winterhager ist sich | |
sicher, dass neue Vergleichsstandards mächtige Auswirkungen auf das | |
Verhalten von Wissenschaftlern haben wird: Es käme weniger darauf an, gute | |
Forschung zu machen, sondern gute Indikatoren zu erreichen. | |
Inzwischen ist die erste Version des Standards entschieden: Neben | |
Publikationen werden auch Drittmittelprojekte sowie Patente und | |
Firmengründungen erfasst. Vereinfachte Auswerteprogramme werden dort eine | |
scheinbar „bessere“ Forschung anzeigen, wo es beispielsweise viele | |
industrienahe Lehrstühle mit hohen Drittmitteleinnahmen und Patentzahlen | |
gibt. Wird dies Politiker dazu verleiten, Geld vermehrt dorthin zu schieben | |
– oder Wissenschaftler, mehr auf diesen „Output“ zu achten? | |
Veröffentlicht und ausgetauscht sollen die Daten höchstens auf der Ebene | |
einer einzelnen Abteilung werden. Details zu personenbezogenen Daten sind | |
zwar auch Teil des Standards, doch sollen sie die jeweilige Uni oder das | |
Forschungsinstitut nicht verlassen. | |
Tiefgreifende Reformen kommen nicht immer mit einem Paukenschlag. Dieser | |
blieb schon beim Bolognaprozess aus. Als die politisch-administrative Ebene | |
die Reform fast aller Studiengänge in die Wege leitete, erkannte kaum | |
jemand die zukünftigen Folgen. Als die Wissenschaft reagierte, war die | |
Reform nicht mehr rückgängig zu machen. Dasselbe könnte sich bei der | |
Rundumvermessung der Wissenschaft wiederholen, befürchten Kritiker. | |
## „Forschungsrating“ des Wissenschaftsrats | |
Ausgangspunkt für den Kerndatensatz war, dass bisher keine Standards für | |
Informationen über Forschungseinrichtungen existierten. Wenn etwa ein | |
Wissenschaftsminister einen Vergleich über alle Universitäten seines | |
Bundeslandes haben möchte, startet ein mühsamer Prozess zur Aufbereitung | |
der Daten. Auch für groß angelegte Evaluationen ganzer Disziplinen, die mit | |
dem „Forschungsrating“ des Wissenschaftsrats verglichen werden sollen, ist | |
die Datenerhebung eine gewaltige Herausforderung. Könnte es nicht einfacher | |
gehen? | |
Es kann – doch schnell zählt das, was gezählt wird. Nicht jeder Ingenieur | |
kann Radiointerviews vorweisen, und nicht jeder Geisteswissenschaftler | |
Patente. Obwohl der Wissenschaftsrat schon 2013 von unerwünschten | |
Anreizwirkungen sprach und dazu aufforderte, derartige Effekte zu prüfen, | |
pries er gleichzeitig die soliden Standards an. Mit ihnen könnten | |
„verlässliche Indikatoren entwickelt werden, um die Bewertung von | |
Forschungsleistungen durch die Datenabfrager zu unterstützen“. Um Bedenken | |
vorzubeugen, verschob er sogar die Verabschiedung des Kerndatensatzes um | |
drei Monate, um an der Verpackung zu feilen. | |
Inzwischen weist er auf mögliche Nebenwirkungen ausdrücklich hin: Die | |
Angaben im Kerndatensatz würden keinesfalls ausreichen, um | |
wissenschaftliche Leistungen zu bewerten. Dazu bedürfe es weiterhin | |
Wissenschaftler, die sich auf dem jeweiligen Gebiet gut auskennen. Doch | |
gleichzeitig legt der Wissenschaftsrat mit seinem neuen Standard die Basis | |
dafür, dass es anders kommt. | |
## Forscher waren kaum beteiligt | |
„Der Kerndatensatz ist nicht aufzuhalten, da es viele Argumente gibt, die | |
für ihn sprechen“, sagt Winterhager. „Aber es heißt nicht, dass es gut is… | |
was da kommt.“ Aus seiner Sicht handelt es sich um ein Experiment am | |
lebenden System, dessen Folgen schwer abzuschätzen sind. | |
Während die vereinheitlichten Datenstandards den meisten Univerwaltungen | |
gelegen kommen dürfte, sind die Verbände von Wissenschaftlern bisher | |
verhalten bis sehr kritisch, sofern der Kerndatensatz überhaupt auf ihrem | |
Schirm aufgetaucht ist. Um die Akzeptanz zu maximieren, wollte das iFQ | |
eigentlich möglichst viele Akteure mit in das Projekt einbinden, wie | |
Biesenbinder sagte. | |
Doch Forscher waren kaum beteiligt. „Die Fachgesellschaften wurden absolut | |
ungenügend in den Prozess eingebunden“, sagt Betina Hollstein, die im | |
Vorstand der Gesellschaft für Soziologie für Forschung zuständig ist. Dabei | |
versammelt ihr Fachverband auch die deutsche Expertise zur | |
Wissenschaftssoziologie. Auch Martin Schulze Wessel, Vorsitzender des | |
Historikerverbands, kritisiert dies scharf: „Es gab keine öffentliche | |
Debatte zum Kerndatensatz.“ | |
## In ein Panoptikum eingesperrt | |
Sein Verband hat sich vergleichsweise früh mit dem Thema beschäftigt und | |
die „große Gefahr“ angeprangert, dass durch die einheitliche Vermessung | |
Unterschiede zwischen Fachkulturen verwischt werden könnten und Fehlanreize | |
geschaffen würden, strategisch nur die Daten zu verbessern – und die Lehre | |
oder andere Tätigkeiten zu vernachlässigen. Viele andere Verbände haben es | |
wohl verschlafen. | |
Der Allgemeine Fakultätentag, ein fächerübergreifendes Gremium, erörtert | |
derzeit immerhin eine mögliche Stellungnahme. Auf einer Tagung zum | |
Kerndatensatz im vergangenen Sommer war zwar ein großer Teil aller | |
Universitäten und Forschungseinrichtungen vertreten – doch waren fast keine | |
aktiven Wissenschaftler anwesend. Weder die Tagung noch deren Ergebnisse | |
waren iFQ oder Wissenschaftsrat eine Pressemitteilung wert. | |
Wissenschaftler kritisieren aber nicht nur die mangelnde Transparenz. „Der | |
Kerndatensatz wird die Wissenschaft nur noch weiter in ein Panoptikum | |
einsperren und jede Kreativität zum Erliegen bringen“, fürchtet der | |
emeritierte Soziologe Richard Münch. An der Universität Bamberg erforscht | |
er, welche unbeabsichtigten Effekte quantitative Bewertungen haben. Ein | |
Ergebnis lautet: Durch die leistungsorientierte Mittelvergabe werde die | |
Forschungsfreiheit von Professoren und Doktoranden eingeschränkt. | |
## Finanziell aussichtsreiche Themen | |
Universitäten hängen eh immer stärker von Drittmitteln ab, durch die es | |
immer mehr zu befristeten, prekären Arbeitsbedingungen kommt. Insbesondere | |
kleinere Unis würden sich auf finanziell aussichtsreiche Themen stürzen. | |
Dabei blieben Vielfalt und Qualität von Lehre und Forschung oft auf der | |
Strecke. Auch Unileitungen orientieren sich nach einer aktuellen Studie | |
immer mehr an Indikatoren. „Das geht ganz klipp und klar zu Lasten der | |
Studierenden“, sagt Wieczorek. | |
Schon in zwei oder drei Jahre dürfte der Kerndatensatz verbreitet sein. | |
Allerdings – betont der Wissenschaftsrat – sei er kein abgeschlossenes | |
Projekt. Alle fünf Jahre soll der Datensatz angepasst werden. Ob eine | |
künftige Evaluierung jedoch noch dazu führen kann, die verstärkte | |
Quantifizierung der Wissenschaftslandschaft aufzuhalten, darf bezweifelt | |
werden. Zumindest haben die betroffenen Forscher kein Wort mehr mitzureden. | |
Für Änderungsvorschläge aus den Hochschulen hatte es einmalig eine | |
achtwöchige Kommentierungsphase gegeben. Für die weitere Beurteilung des | |
Datensatzes will der Wissenschaftsrat nur „einschlägige“ Experten befragen. | |
20 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Hinnerk Feldwisch-Drentrup | |
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