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# taz.de -- Kurdisches Neujahrsfest Newroz: Eine Feier, auf die sich niemand fr…
> Jedes Jahr am 21. März findet das kurdische Newroz-Fest statt. Die
> Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Blut fließen wird – wieder einmal.
Bild: Newroz-Feiern 2015 in Diyarbakir. Dieses Jahr sind sie dort nur eingeschr…
Der Legende nach herrschte vor 2.500 Jahren König Dehak über Assur, ein
außerordentlich grausamer Tyrann, der den Frühling verbot. In seinem Reich
lebte auch der Schmied Kawa. Dem König wuchs aus jeder Schulter eine
Schlange. Um die Schlangen zu ernähren, ließ er jedes Jahr zwei kurdische
Jünglinge aufs Schloss bringen und von den Köchen töten. Ihre Hirne gab er
den Schlangen zu fressen. Schließlich gelang es Armayel und Garmayel, die
genug vom Despotismus hatten, als Köche ins Schloss zu gelangen.
Fortan töteten sie von den beiden Jungen immer nur jeweils einen und
verhalfen dem anderen heimlich zur Flucht. Diese Jungen, die sie jedes Jahr
vor dem König retteten, wurden die Stammväter der Kurden, Schmied Kawa
bildete sie insgeheim aus und baute mit ihnen eine Streitmacht auf. Unter
Kawas Führung marschierte die Truppe an einem 20. März gegen den Palast und
Kawa erschlug den Tyrannen mit seinem Schmiedehammer. Auf den Hügeln
ringsum ließ er zur Feier des Sieges Feuer entzünden. Am Tag darauf hielt
der Frühling Einzug in die Welt.
Seither kündet das Feuer ebenso vom Frühling wie auch von Kampf und Opfer.
2.500 Jahre später, am 21. März 1982, riss ein kurdischer Jugendlicher im
türkischen Gefängnis von Diyarbakır drei Streichhölzer an und verbrannte
sich. Heute ist Mazlum Doğan ein Symbol der kurdischen Bewegung. Zwei
Monate darauf saßen erneut vier Jugendliche in der Zelle im Gefängnis von
Diyarbakır. Wieder zündeten sie sich mit drei Streichhölzern an.
## Herausforderung Feuer
Es heißt, das Feuer der bewaffneten kurdischen Bewegung PKK habe sich an
den Flammen dieser Körper entzündet. In den Jahren danach verbrannten sich
immer wieder junge Menschen im Protest gegen einen Tyrannen und genau wie
in der Legende wuchsen die geretteten jungen Kurden als eine Streitmacht
heran. Jedes Jahr am 21. März entzünden die Kurden das Newroz-Feuer und
springen zur Feier des Tages darüber. Sie fordern das Feuer heraus, sie
spielen mit ihm und sie zeigen jedes Mal, wie nah diesem Volk die
Eventualität der Selbstverbrennung liegt.
Allerdings endet die Geschichte ganz anders als die Legende. Nie kommt am
21. März der Frühling in die Türkei. Am 22. März wird stets vor allem über
die Zahl der Toten gesprochen. Vom Frühling spricht niemand.
Vor diesem 21. März denke ich daran, was dem Fest in den letzten 20 Jahren
widerfuhr.
Newroz gewann seit Beginn der 1990er-Jahre für die kurdische Bewegung
zunehmend an politischer Bedeutung. Als klar wurde, dass es mit Repression
nicht auszumerzen war, versuchte der Staat es 1995 mit einer neuen
Strategie. Offizielle Feierlichkeiten! Plötzlich entdeckte man Nevruz –
nicht Newroz! – als ursprünglich türkisches Fest.
## „Größter Kundgebungsplatz des Mittleren Ostens“
Nun gehörte es für einige Jahre zu den Pflichten staatlicher Vertreter, in
ihren zugeknöpften Anzügen über winzige, unter militärischer Aufsicht
entzündete Feuer im Zentrum von Ankara zu hopsen. Schwerbäuchige
Staatsmänner mittleren Alters legten nach Kräften athletische Anstrengungen
an den Tag, um den Kurden das Fest zu entreißen, doch im kollektiven
Bewusstsein brannte Nevruz nie so stark wie das Newroz-Feuer.
In den Jahren 1991 bis 2000 fielen bei den Feiern, die als „Aufmarsch der
illegalen bewaffneten Terrororganisation“ verstanden wurden, 125 Menschen
der Polizeigewalt zum Opfer. Nachdem 2002 die AKP an die Macht gekommen
war, milderte sich der Druck, die Menschen strömten zu den Newroz-Feiern,
in Diyarbakır rund eine Million. Dort hängt am Zugang zum Festplatz ein
Schild: „Größter Kundgebungsplatz des Mittleren Ostens.“
Jahr um Jahr füllte sich der Platz mehr. Die denkwürdigsten Newroz-Feiern
fanden 2013 und 2014 statt. Es wurden lange Botschaften von Abdullah Öcalan
aus dem Gefängnis verlesen, dessen Name zuvor gar nicht oder nur mit dem
Zusatz „Babymörder“ genannt wurde.
Nun rühmten die Mainstream-Medien seine Wortmeldungen. Mit der „kurdischen
Öffnung“ (so wurden die Friedensverhandlungen im Kurdenkonflikt von der
Regierung genannt) strömten auch regimetreue Journalisten zu Newroz, das
jahrelang als „illegale Aktivität“ bezichtigte Fest wurde erstaunlich
fröhlich gefeiert.
## 224 tote Zivilisten in halbem Jahr
Der Enthusiasmus hielt an, bis die Regierung plötzlich eine Wende vollzog.
Heute hat das politische Klima radikal verändert - aufgrund der seit Juni
2015 in den kurdischen Provinzen im Südosten durchgeführten
Militäroperationen. Allein von August 2015 bis Februar 2016 starben in den
kurdischen Regionen nach Angaben der Menschenrechtsstiftung der Türkei 224
Zivilisten, darunter 42 Kinder, 31 Frauen, 30 Über-60-Jährige. Sie alle
fielen den ausgedehnten Ausgangssperren in der Region zum Opfer.
Die Anzahl der Bürger, die ihre Häuser in Folge der Ausgangssperren,
Operationen und innerstädtischen Kämpfe verlassen mussten, belief sich
bereits Ende Januar 2016 auf 200.000. Das Gesundheitsministerium gibt nun
die Zahl der zur Migration gezwungenen Personen mit 355.000 an. Es gibt
also keinen Grund zum Feiern in diesem Jahr. Das Feuer brennt in den
Häusern und Herzen.
Die Intellektuellen, AkademikerInnen und JournalistInnen, die sich zur
kurdischen Sache äußerten waren stets eine Minderheit. Jetzt aber sind auch
noch die Letzten verstummt. Es ist nicht König Dehak, der mit Blut, mit dem
Blut junger Türken und Kurden, eine Vielzahl Schlangen ernährt. Doch
diesmal ist das Gemetzel von ungewohntem Schweigen begleitet.
## „Die wären sowieso Terroristen geworden“
Der Trotz der bewaffneten kurdischen Bewegung, ihre Weigerung, sich den
Triumph bei den Wahlen vom Juni 2015 auf der politischen Bühne zu eigen zu
machen, ihr Beharren auf dem bewaffneten Kampf und die Repression des
autoritären Regimes in der Türkei, mittlerweile aller Welt bekannt, machen
es Intellektuellen unmöglich, sich zu diesem Thema zu äußern. Regimetreue
Journalisten, die früher an Newroz-Feiern teilnahmen, sagen heute, wenn
Kinder umgebracht werden, ungeniert: „Die wären später sowieso Terroristen
geworden.“ Heute herrschen ein Rassismus und eine Gewalt, die die 1990er
Jahre, die uns als die blutigsten galten, in den Schatten stellen.
Die nachhaltigste und deutlichste Auswirkung der letzten zehn Jahre
AKP-Regierung dürfte folgende sein: Die kurdische Sache, die in den 1990er
Jahren für die Intellektuellen sowohl in der Türkei wie auch im Westen eine
Sache der Freiheit, Gleichheit und vor allem der Menschenrechte war, ist
heute zu einem beliebigen Konflikt im Nahen und Mittleren Osten verkommen.
Zu einem weiteren Gegenstand der Realpolitik für Nahost-Experten.
## Thema Kurden wird ausgespart
Besonders tragisch aber ist: Die Mainstream-Medien des Westens, die die
weiblichen Peschmerga in den Kämpfen in Syrien als Superheldinnen gegen das
Menschheitskarzinom IS inszenierten, sogar Modeaufnahmen mit
Milizionärinnen machten, haben in der Trübung der politischen
Gleichgewichte dieses Volk, die „gerechten Krieger“, schlicht vergessen.
Nicht allein die Türkei, offenbar die ganze Welt hat beschlossen, über das
Thema Kurden zu schweigen.
Dass in diesem Jahr die Newroz-Feierlichkeiten in fast allen Großstädten
der Türkei verboten sind, überrascht da nicht. Für die Kurden ist es
diesmal das Fest des Allein- und Vergessenseins. Im Nahen und Mittleren
Osten, wo die Grenzen der Menschlichkeit ausgelotet werden, sieht es,
während Granaten explodieren, Waffen feuern und Kinder sterben, nicht nach
Frühling für Schmied Kawa aus. Denn in der Türkei ist es inzwischen ein
Verbrechen, auch nur zu sagen: „Da sterben Kinder.“ Der Westen der Türkei,
die kaum noch Zeit für Trauer um die vor ihrer Haustür durch Sprengsätze
ums Leben kommenden jungen Menschen findet, erfährt von den Toten im Osten
nicht einmal.
Und Dehak lässt heute beide Jünglinge töten. Niemand ist da, der zumindest
einem von ihnen zur Flucht verhelfen würde.
Aus dem Türkischen übersetzt von Sabine Adatepe
21 Mar 2016
## AUTOREN
Ece Temelkuran
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