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# taz.de -- Intendant über Baden-Württemberg: „Wahlkampf ist eher Prosa als…
> Der Intendant der Staatsoper Stuttgart, Jossi Wieler, liebt die Schwaben
> für ihre berechnende Leidenschaft – und warnt vor Extremisten im Landtag.
Bild: „Demo für alle“ im Oktober 2015 vor der Staatsoper Stuttgart, die si…
Wir haben noch eine gute Woche bis zur Landtagswahl. Die einen stellen den
Ministerpräsidenten, zum ersten Mal in der Geschichte Baden-Württembergs,
die anderen wollen zurück an die Macht. Wäre das ein Opernstoff?
Jossi Wieler: Gute Frage. Die habe ich mir so noch nicht gestellt. Sie
meinen jetzt wirklich auf der Bühne?
Was wäre es denn für ein Stück? Ein Tragödie oder eine Komödie?
Ich sehe es nicht unbedingt als Drama. Eher als Prosa.
Eine Lesung über die letzten Tages des Wahlkampfs?
Mit verteilten Rollen. Man muss zeigen, was in Baden-Württemberg gewachsen
ist. Vielleicht würden Politiker ein Drama sehen. Aber wenn ich aus der
Perspektive einer Kulturinstitution spreche, dann möchte ich das weit über
die Parteigrenzen hinaus gefestigte Fundament beschreiben, auf dem die
Künste sich offen und frei entfalten können.
Dann gibt es am Ende eines abermals historischen Wahlkampfs gar keine
dramatische Situation im eigentlichen Sinn?
Es könnte eine werden. Es wäre ein Drama für dieses Land, wenn Freiheiten
beschnitten würden, wenn Extremisten und ideologische Dogmatiker ins
Parlament einzögen.
Kulisse für die Proteste von Gegnern gleichgeschlechtlicher Ehe war Ihr
Haus ja schon.
Das Opernhaus wurde – ohne unser Wissen – Kulisse für eine sogenannte „D…
für alle“, was geradezu zynisch ist, weil es sich eben nicht um eine
Demonstration für alle handelt. Da wollten wir im wahrsten Sinne des Wortes
Farbe bekennen. 1.350 Mitarbeiter aus über 50 Nationen arbeiten in all
ihrer individuellen Vielfalt an den Staatstheatern Stuttgart. Wenn unser
Opernhaus als Kulisse für solche Demonstrationen benutzt wird, dann
entsteht in der Öffentlichkeit der falsche Eindruck, wir teilten deren
Forderungen. Deswegen haben wir das letzte Mal mit einem künstlerischen
Happening reagiert, mit dem „Vielfalt“-Banner. Und vergangene Woche haben
wir die Option, dass der Demonstrationszug vor das Theater zieht, gar nicht
erst aufkommen lassen, sondern auf dem Opernvorplatz ein Fest der Künste
veranstaltet: „Shakespeare in love“, mit vielen befreundeten
Kunst-Institutionen in dieser Stadt, als klares Zeichen nach außen und
identitätsstiftend nach innen. Dieses Land hat eine liberale Tradition, für
die wir uns immer wieder engagieren müssen.
Sie sprechen mit Hinwendung über Baden-Württemberg. Wie war das, als Sie in
Ihrer Jugend von Kreuzlingen am Schweizer Bodenseeufer aus hinübergeschaut
haben?
Der Bodensee, Südbaden – da habe ich heimatliche Gefühle. Natürlich hat
sich die Gesellschaft verändert seit damals, aber nicht nur hier.
Was ist Ihnen Baden-Württemberg?
Von diesem Land sind immer sehr innovative Impulse ausgegangen, nicht nur
aus der Wirtschaft. Es ist aber andererseits immer sehr traditionsbewahrend
gewesen. Aus diesen Kräften schöpft das Land bis heute seine Dynamik.
Womöglich seit und weil es von Grün-Rot regiert wird?
Ich gehe da noch weiter zurück. Schon in den 80er und 90er Jahren wurde im
kulturellen Bereich viel Visionäres initiiert. Das ZKM in Karlsruhe war
neu, die Akademie Schloss Solitude, die Pop-Akademie in Mannheim, in
Ludwigsburg die Filmakademie. Da wurde viel Innovatives geleistet und zu
Zeiten von CDU-Ministerpräsident Lothar Späth auch viel Geld investiert.
Davon profitiert das Land heute noch. Die Frage ist vielleicht, warum es im
Moment vergleichsweise weniger neue Visionen gibt. Liegt das an der Zeit
oder ist da eine Sättigung erreicht oder hat sich der Fokus verschoben?
Haben Sie eine Theorie, warum die innovativen Potenziale gerade eine
Verschnaufpause eingelegt haben?
Das Geld ist weniger geworden. Das ist aber keine Theorie, das ist einfach
ein Fakt.
Um der Wahrheit Genüge zu tun, muss man aber auch sagen, dass gerade Späth
1991 hohe Schulden hinterlassen hat.
Das stimmt. Ich zolle daher den Verantwortlichen von heute großen Respekt
für ihre Entscheidung, dieses Opernhaus, den Littmann-Bau, der über hundert
Jahre alt ist, grundlegend zu sanieren. Für mehrere hundert Millionen Euro.
Da gibt es einen breiten Konsens. Und ich fand das beachtlich, kostbar
geradezu, dass sie sich zur Vorbereitung dieser Entscheidung auf eine
Informationsreise zu den Opernhäusern in Kopenhagen und London begeben
haben. Mich als Schweizer hat das an die Art und Weise erinnert, wie bei
uns politische Fragestellungen im Vorfeld von Volksabstimmungen diskutiert
werden. Dieser zutiefst demokratische Meinungsbildungsprozess, der
parteiübergreifend war, hat mich beeindruckt.
Als Schweizer sind Sie ja ein Experte für die Politik des Gehörtwerdens.
Das ist auch eine grün-rote Innovation, die obendrein vergleichsweise wenig
kostet.
So unterschiedlich sind die Mentalitäten der Menschen nicht, die in der
Schweiz und in Schwaben leben. Die Zwinglianer und die Pietisten sind in
gewissem Sinn nicht unverwandt. Und das spürt man immer wieder. Man muss
einen langen Atem haben, wenn man etwas erreichen möchte. Aber wenn die
Argumente überzeugen, wächst auch die Begeisterung, so wie jetzt bei der
Sanierung des Opernhauses.
Sie sagen immer, Sie wären als Intendant an kein anderes Opernhaus gegangen
als Stuttgart.
Das hat damit zu tun, was in diesem Land und natürlich auch in diesem Haus
gewachsen ist. Es gibt hier einen Geist von innen heraus, den es an vielen
anderen Opernhäusern in Deutschland und in der Welt kaum noch gibt. Da ist
auch ein Publikum, das sich mitnehmen lässt, das sich auseinandersetzen
möchte mit schwierigen Stoffen, das nicht einfach nur zufrieden ist mit
kulinarischem Theater. Das merkt man beispielsweise daran, wie begehrt die
Programmhefte aus unserer Dramaturgie sind. Die Menschen hier wollen
informiert sein. Und sie schauen und hören genau hin. Meine Gespräche mit
Besuchern im Foyer sind nie oberflächlich. Da geht es immer um den Kern.
Aber provinziell, würden jetzt wohl manche Berliner sagen. Haben Sie das
jemals so empfunden, dass Sie in der Provinz Kultur machen?
In den großen Städten wird oft etwas gehypt. Daumen hoch, Daumen runter,
oder die Leute gehen türenschlagend aus einer Aufführung raus. Das ist in
Stuttgart nicht der Fall. Unser Publikum schaut sich Inszenierungen zum
Teil mehrfach an. Einzigartig ist die räumliche Dichte der kulturellen
Einrichtungen in der Innenstadt, andererseits habe ich immer wieder das
Gefühl, Stuttgart ist auch ein großes Dorf.
Dieses Dorf hat Sie 2011, auch direkt hier vor Ihrem Opernhaus, aber sehr
großstädtisch empfangen mit dem Protest gegen Stuttgart 21.
Da sind wir wieder bei der Mentalität. Ich könnte mir diese Art von
Protest, in der zeitlichen Länge und in der Bevölkerungsbreite, auch in der
Intensität bis weit ins Bildungsbürgertum hinein anderswo so nicht
vorstellen. Vor allem in dem Wunsch, sich etwas anzueignen. Dieser Wille,
das Wissenwollen, die Vehemenz sind einzigartig.
Das hat jetzt aber doch mit Empörungsfähigkeit, mit Türenschlagen im
übertragenen Sinn zu tun.
Wir haben bei den Gegnern von Stuttgart 21 gesehen, wie leidenschaftlich
empört eine Gesellschaft oder ein Teil einer Gesellschaft sein kann. Und
ich habe das mit Interesse beobachtet. Auch weil der Protest so standhaft
war und zum Teil immer noch ist.
Vielleicht wäre das ein Opernstoff.
Eine Oper plant man sehr viele Jahre im Voraus. Als wir „Salome“ ins
Programm genommen und dann dem russischen Regisseur Kirill Serebrennikov
angeboten hatten, da wussten wir nicht, dass es acht Tage vor der Premiere
im November 2015 diese Anschläge in Paris geben würde, die der Inszenierung
eine besondere Relevanz verliehen haben. Eine „Salome“, in der der Eiferer
Jochanaan als muslimischer Prophet gezeigt wird, das hat einen neuen Blick
eröffnet. Sogar bei Menschen, die eher das Kulinarische lieben. So zeigt
sich, wie Künstler mit einem Stoff weit im Vorhinein in das
gesellschaftspolitische Bewusstsein hineinlauschen sollten. Und genau das
soll im Theater passieren. Dann wird Theater relevant und erfüllt ein
großes Bedürfnis in der Bevölkerung.
Gut für die Kunst, dass es einen Ministerpräsidenten gibt, der das als
großer Opernkenner verinnerlicht hat.
Das ist wahr. Er kommt tatsächlich oft in die Oper. Wir hatten vor drei
Spielzeiten „Iphigenie in Aulis“ von Gluck im Programm. Das ist ein nicht
so gängiger Titel im Opernrepertoire Aber der Ministerpräsident kam. Ich
habe ihn in der Pause begrüßt und gefragt, was ihn bewogen habe, diese
Vorstellung zu besuchen. Er antwortete, dass er Glucks Oper zwar nicht
kenne, wohl aber den antiken Atriden-Mythos um Familie und Macht, der ihn
besonders interessiere. Was will man als Kulturschaffender von einem
Landesvater mehr als so eine Aussage?
5 Mar 2016
## AUTOREN
Benno Stieber
Johanna Henkel-Waidhofer
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