# taz.de -- Musiker über Missbrauch durch Nazis: „Das hat sich eingeprägt“ | |
> Vor sieben Jahren schrieb Kai Niemann den Song „Wir sind das Volk“. | |
> Mittlerweile wird er bei Veranstaltungen von NPD und Pegida gespielt. | |
Bild: Umgedeutet: Zum 20. Jubiläum des Mauerfalls schrieb Niemann seinen Song | |
taz: Herr Niemann, wann haben Sie das erste Mal die Sprechchöre „Wir sind | |
das Volk“ gehört? | |
Kai Niemann: Mit elf Jahren in meinem Heimatort Sangerhausen, wo mich mein | |
Vater zu einer Demo in der Wendezeit mitgenommen hatte. Das hat sich | |
eingeprägt. | |
Der Ruf ist das Intro zu Ihrem Song „Wir sind das Volk“. Warum haben Sie | |
den 2009 gemacht? | |
Damals meinten ein paar Freunde zu mir: 20 Jahre Mauerfall, mach doch mal | |
was! Da dachte ich zuerst an die Sprechchöre und Leipzig, wo ich inzwischen | |
auch lebe. Der Song sollte eher eine kritische Bestandsaufnahme sein. | |
2009, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, fühlten sich viele verraten von | |
den Politikern, die sie zugelassen hatten. War „Wir sind das Volk“ auch | |
darauf eine Antwort? | |
Ich habe damals versucht, den Song so universell wie möglich zu | |
formulieren, bewusst auch etwas populistisch, um es provokativ zu machen. | |
Im Nachhinein bedauere ich das ein wenig, weil es doch einigen | |
Interpretationsspielraum zuließ. | |
Die Pegida-Leute haben Ihren Song für sich entdeckt. Was halten Sie davon? | |
Den Slogan „Wir sind das Volk“ haben sie sich sowieso unter den Nagel | |
gerissen. Das erste Mal, dass mein Song vereinnahmt wurde, geschah vor | |
anderthalb Jahren bei einer NPD-Wahlkampfveranstaltung in Thüringen. Ich | |
habe damals einen Rechtsanwalt kontaktiert, aber die rechtliche Handhabe | |
ist leider gering. Wenn jemand bei einer genehmigten öffentlichen | |
Veranstaltung Musik spielt, kann man das nicht verbieten. Der Veranstalter | |
muss nur die Musik anmelden und Gebühren an die Gema bezahlen. Letztlich | |
kann man sich nur so gut es geht davon distanzieren. | |
Dann wurde der Song auch noch ein Hit im Netz. Was dachten Sie? | |
Mein „Wir sind das Volk“-Originalvideo dümpelte dort jahrelang vor sich | |
hin, bis es in den letzten anderthalb Jahren 750.000 Mal geklickt wurde. | |
Dabei war es gar nicht vordergründig politisch. Demonstranten oder | |
Politiker tauchten überhaupt nicht auf, auch weil wir die Idee, ein | |
Merkel-Double als Obdachlose durch die Hamburger Innenstadt laufen zu | |
lassen, zum Glück nicht umgesetzt hatten. Das war mir doch eine Nummer zu | |
grob. Andernfalls hätten wir heute bestimmt 20 Millionen Klicks. | |
Dass es trotzdem so viele rechte Fans fand, hat Sie überrascht? | |
Total. Ich dachte eher, dass es in die andere Richtung abgeht. Ich bin ja | |
selbst eher linksgerichtet. Dass die Rechte sich das aneignen würde, hat | |
keiner erwartet, zumal die 2009 gar nicht so eine große Rolle in der | |
Öffentlichkeit spielte. Das kam ja erst später, was ich auch an den ganzen | |
rechten Kommentaren unter meinem Video merkte. Lauter Parolen, wie sie halt | |
auch auf der Straße geschrien werden: „Volk steh auf!“, „Lügenpresse“… | |
so. | |
Gab es auch Lob für Sie als Songschreiber? | |
Na klar. Das Lied gehöre auf Platz eins, und so weiter. Irgendwann wurde es | |
mir zu viel und ich habe die Hamburger Firma, die das Video gedreht und | |
online gestellt hat, gebeten, es aus dem Netz zu nehmen, also bei YouTube | |
zu sperren. | |
Im Lied singen Sie: „Wer wird jahrelang von euch betrogen, nach Strich und | |
Faden ausgezogen, wer soll dann auch noch wählen gehen, und darf dann in | |
die Röhre sehen?“ Wenn ein Pegida-Fan „Stimmt genau“ dazu sagt, was | |
antworten Sie dem, in welchem Punkt der Text total missverstanden wird? | |
Es geht um die Grundeinstellung. Ich sage dem Pegida-Fan, dass die | |
Ausländer und auch der allergrößte Teil der Flüchtlinge nicht für seine | |
Probleme verantwortlich sind. | |
Sondern die Politiker? | |
Na ja, wenn ich sehe, wie Politik und Wirtschaft verbandelt sind und | |
Steuermilliarden verschwenden, siehe BER in Berlin, dann denke ich schon: | |
Das kann nicht sein. Und warum nimmt das jeder so hin? Ein Problem ist | |
allerdings, dass das demokratiefeindliche Auftreten der Pegida-Leute – beim | |
Ableger hier in Leipzig waren das ganz stramme Rechte – dafür sorgt, dass | |
man nun selbst davor zurückschreckt, sich „normal“ über die Politik | |
aufzuregen oder vielleicht auch mal nicht zur Wahl geht, weil man die | |
Schnauze voll hat. Da gerät man schnell in eine Ecke, in die man nicht | |
will. | |
Wie reagierte das Publikum anfänglich, als Sie „Wir sind das Volk“ live | |
gespielt haben? | |
Die fanden das ganz gut. Es lief ja auch kurz im Radio. Manche sagten: | |
Toller Song, wird ja Zeit, dass einer mal sagt, was los ist. Andererseits | |
war es nie so, dass wir dachten: Ups, da haben wir uns wohl vertan. Bis ich | |
viel später einen Anruf bekam: Guck dir mal die YouTube-Klicks an! | |
Vereinzelt soll der Song auch bei den ersten Pegida-Demos gelaufen sein? | |
Ja, Ich bekam sogar mehrere Anfragen von der AfD, ob ich auf deren | |
Wahlkampfveranstaltungen spielen würde. Um ein Statement dagegen zu setzen, | |
bin ich sogar bei zwei Wahlkampfveranstaltungen von Die Linke in Jena und | |
Gera aufgetreten. Außerdem bin ich zu Legida-Gegendemos in Leipzig | |
gegangen. | |
Da hat man als nicht so bekannter Musiker endlich einen Hit und stellt dann | |
fest, dass den die Falschen feiern. Ärgern Sie sich? | |
Das ist auf eine Art echt ärgerlich, muss ich zugeben, da wir als Band auch | |
finanziell zu kämpfen haben. Du denkst: Okay, anscheinend hat der Song | |
Hitpotenzial. Aber wenn man dann sieht, wofür der herhalten soll, kann man | |
das nicht mit seinem Gewissen vereinbaren. Ich will die Einnahmen aus dem | |
Song für die Flüchtlingshilfe spenden. Einfach, um die Idioten zu ärgern, | |
dass dafür ihr Geld draufgeht. | |
Über wie viel Geld reden wir? | |
Keine Riesensumme. Ich vermute mal, höchstens 3.000 Euro. Ich werde mir ein | |
schönes Projekt raussuchen. | |
Ihr offensives Vorgehen gegen die Vereinnahmung durch die Rechten dürfte | |
denen nicht entgehen. Bereitet Ihnen das mulmige Gefühle? | |
Manchmal liken einige auf meiner Facebook-Seite, weil sie denken, ich würde | |
rechtes Gedankengut unterstützen. Wenn ich dann in einem Post mal wieder | |
meine Meinung betone, gibt es natürlich auch böse Kommentare, aber die | |
lösche ich einfach oder ich blockiere den User. | |
Auf YouTube kursiert auch ein mit Ihrer Musik unterlegtes Video „Wir sind | |
das Volk (Österreich-Song)“. Unternehmen Sie etwas dagegen? | |
Bei YouTube ist das schon schwieriger mit dem Löschen als bei Facebook. Den | |
Missbrauch deiner Songs kannst du nie ganz verhindern, das haben ja auch | |
Wir sind Helden erlebt mit „Gekommen, um zu bleiben“. Du hast als Künstler | |
nie die totale Kontrolle darüber, was mit deinen Werken passiert. Man muss | |
auch etwas cool bleiben und klar seine Meinung vertreten. | |
Seit Kurzem heißt Ihre Band nicht mehr Niemann, sondern 108 Fahrenheit. Um | |
nicht mehr mit „Wir sind das Volk“ assoziiert zu werden? | |
Zum einen. Aber andererseits störte mich schon länger, dass Niemann stark | |
mit einer Altlast verbunden ist: dem Song „Im Osten“, der 2001 ein großer | |
Single-Hit war. Als mich kürzlich eine Polizeistreife in Leipzig anhielt, | |
wollten die tatsächlich ein gemeinsames Foto. | |
„Im Osten“ war ein schlichtes Lied, das damals ernsthaft für Diskussionen | |
über Ost-West-Identität sorgte. | |
Obwohl es nichts Anrüchiges hatte, bekam ich sogar Drohungen, weil ich | |
sang, dass die Mädchen hier im Osten hübscher seien und die Männer besser | |
küssten. Herrgott, manche nutzen selbst so was, um ihren privaten Frust | |
abzulassen. Damals habe ich schon gelernt, dass man das ignorieren muss. | |
Und wenn mir jetzt so ein Pegida-Arsch droht, nehme ich das auch nicht | |
wirklich ernst. | |
Werden Sie all das künftig beim Texten mitbedenken, weil Sie keinen Bock | |
haben, wieder missverstanden zu werden? | |
Klar ist, dass man beim Formulieren stärker überlegt, das wohl doch. Man | |
muss zurzeit sehr aufpassen, dass bestimmte Worte nicht in eine unangenehme | |
Richtung gedeutet werden können. | |
Spielen Sie „Wir sind das Volk“ noch auf Konzerten? | |
Nein, der Song hat ein paar Jahre auf dem Buckel und wir haben ja jetzt | |
auch neue Songs. Im März erscheint unser Album „Mein Herz“. | |
22 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Gunnar Leue | |
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