# taz.de -- Zäune gegen Flüchtlinge: Es ist ihm nicht egal | |
> Als Ungarn bei ihm Natodraht gegen Flüchtlinge kaufen wollte, weigerte | |
> sich der Metallhändler Talat Deger und wurde gefeiert. Und heute? | |
Bild: Landschaftlich sehr abwechslungsreich: Grenze zwischen Ungarn und Serbien. | |
Die Firma, die sich weigerte, an Europas Festung mitzubauen, ist selbst gut | |
gesichert. „Bürozeiten 7:30 bis 16 Uhr“, teilt ein Zettel an der | |
Eingangstür mit. Das Materiallager ist mit Natodraht geschützt, auf dem | |
Vordach glänzen Stacheln aus Aluminium, sie sollen Sprayer fernhalten. Auch | |
solche „Wall Spikes“ gehören zum Sortiment von Mutanox, dem Großhändler … | |
Zäune, Drähte und Bleche. | |
Ein Flachbau an der S-Bahn-Trasse in Berlin-Neukölln, auf dem Firmengelände | |
saugen sich Euro-Paletten mit Regen voll, Sand verwandelt sich in Matsch. | |
Gabelstapler düsen zwischen Containern und überdachten Regalen umher. | |
Mutanox erlebte im vergangenen September das, was Geschäftsführer Talat | |
Deger „unsere fünf Minuten Ruhm“ nennt. Er hatte es abgelehnt, Natodraht an | |
Ungarn zu liefern, das damit seine Grenzen gegen Flüchtlinge abschotten | |
wollte. Die Meldung ging um die Welt. | |
Natodraht ist das Wirksamste, was die Drahtindustrie zu bieten hat: Alle | |
dreieinhalb Zentimeter sitzen kleine Blechtrapeze auf dem Draht. Sie sehen | |
aus wie doppelseitige Mini-Streitäxte und sind messerscharf, ihre spitzen | |
Enden wirken wie Widerhaken. Wer sich darin verheddert, zieht sich schwere | |
Schnittwunden zu, wer dann in Panik um sich schlägt, kann darin verbluten. | |
Deger hat mal gesehen, wie die Feuerwehr einen Knast-Ausbrecher aus dem | |
Draht schneiden musste, „der hatte die Klingen noch im Bein“. | |
## „Wir brennen euch die Bude ab!“ | |
Deger hat nichts gegen Natodraht, er lebt davon. „Natodraht ist für die | |
Menschheit ein Segen“, sagt er. „Er schützt die Bevölkerung vor | |
Kriminellen, vor Vergewaltigern, vor Mördern, vor psychisch Kranken. Sie | |
können mit Ihrer Familie spazieren gehen, sich nachts ins Bett legen und | |
sich sicher fühlen.“ Wer ihm zuhört, wundert sich, dass er im Herbst zum | |
Helden wurde. | |
Seit über zehn Jahren führt er zusammen mit Murat Ekrek bei Mutanox die | |
Geschäfte. Beide sind Stahlkaufleute, Deger hat bei Thyssen-Krupp gelernt. | |
Der Renner bei Mutanox ist aber nicht Natodraht, sondern Doppelstabmatten, | |
die fast jedes Firmengelände in Deutschland einzäunen. „Die sind günstig, | |
schnell lieferbar und kommen aus der Massenproduktion“, sagt Deger. | |
Senkrechte Metallstäbe, eingefasst in doppelte waagerechte Metallstäbe, | |
feuerverzinkt und lackiert, bestellbar in Safrangelb, Lachsorange, | |
Taubenblau und fast 200 weiteren Farben. Anthrazit ist gerade in Mode, es | |
hat Moosgrün als beliebteste Farbe abgelöst. | |
Für Füße sind die Maschen der Doppelstabmatten zu eng. Das macht das | |
Klettern schwierig, aber nicht unmöglich. Wer verhindern will, dass jemand | |
auf sein Grundstück kommt, setzt zusätzlich auf Natodraht. | |
## „Je suis Mutanox!“ | |
Geliefert wird dieser in Rollen, die aussehen wie in Packpapier | |
eingeschlagene Rettungsringe. Er lässt sich auf 8 bis 15 Meter strecken, | |
wie eine Ziehharmonika, aber dafür braucht man Spezialhandschuhe. Wer | |
Natodraht kaufen will, braucht dafür keine Erlaubnis, anders als für | |
Gaspistolen oder Rottweiler. „Wenn Sie bei Karstadt ein Messer kaufen, | |
können Sie damit auch Amok laufen – oder eben Brot schneiden“, sagt Deger. | |
Zu seiner Kundschaft gehören Stahlhändler, Schlosser und Ingenieurbüros. | |
Zoos bestellen Zäune für ihre Raubtiergehege, Gefängnisse ordern Natodraht | |
für die Außenmauer und Spiegelbleche für die Zellen – die kann man nicht in | |
Scherben schlagen. Privatleute kaufen Gitter für den Kaninchenstall oder | |
Maschendrahtzäune, um das eigene Beet von dem des Nachbarn zu trennen oder | |
zu verhindern, dass Hunde in den Vorgarten kacken. Auch Künstler haben bei | |
Mutanox schon Natodraht bestellt. | |
Was seine Kunden mit dem Draht machen, ist Deger egal. Er empfiehlt ihnen | |
nur, den Draht in mindestens zwei Meter Höhe anzubringen, auch damit sich | |
keine Hunde oder Füchse darin verfangen. | |
Nur einmal war es ihm nicht egal. | |
Im Juli 2015 fuhr er mit dem Auto in den Urlaub, Richtung Türkei. In | |
Serbien kamen ihm auf der Autobahn Hunderte Menschen entgegen. „Zu Fuß. Mit | |
Kindern. Mit Rücksäcken. Mit Tüten in der Hand, in zerschlissener | |
Kleidung.“ | |
## „Ich will einfach nur in Ruhe meinen Job machen“ | |
Im Urlaub erreichten ihn E-Mails seiner Angestellten: Deutsche Zaunhändler | |
und ungarische Behörden baten um ein Angebot für „mehrere tausend Rollen“ | |
Natodraht. Ein Großauftrag, eine halbe Million Euro hätte Mutanox allein | |
für die erste Lieferung kassiert, die Firma hat den größten Lagerbestand in | |
Deutschland. | |
Den Mails aus Ungarn entnahm Deger das Wort „border“ und die Absicht, den | |
Draht über Hunderte Kilometer direkt auf dem Boden auszurollen: zwei Rollen | |
parallel und eine dritte obendrauf, wie eine Pyramide. Deger zählte eins | |
und eins zusammen, er dachte an die abgerissenen Gestalten auf der | |
Autobahn. | |
„Wir bieten nicht an“, wies er seine Mitarbeiter an. | |
Damit war der Fall für ihn erledigt. Dachte er. Im September gab er der | |
Welt ein Interview. Ganz zum Schluss und eher beiläufig fragte der | |
Reporter, ob Mutanox auch an Ungarn geliefert habe. Deger verneinte und | |
erzählte, was er danach vielen Journalisten erzählt hat: dass Flüchten | |
nicht kriminell sei und dass er kein unschuldiges Blut an seinen Händen | |
haben wolle. | |
Abends ging die Meldung „Deutsches Unternehmen lässt Ungarn bei Nato-Draht | |
abblitzen“ online. | |
## „IHR SEID HELDEN!!!“ | |
Talat Deger schwitzte gerade im Fitnessstudio auf dem Laufband, als sein | |
Handy klingelte: „Wat haste denen erzählt?“, rief sein Kollege. „Das gan… | |
Internet spielt verrückt!“ | |
Die B. Z. kam vorbei, die Huffington Post rief an, Al-Jazeera schickte ein | |
Kamerateam. Der türkische Botschafter besuchte ihn, wildfremde Menschen aus | |
Kanada und Australien dankten ihm per E-Mail. Bei Facebook entstand eine | |
Fanseite. „IHR SEID HELDEN!!!“ schrieben die Nutzer, andere „Je suis | |
Mutanox“. | |
Auch ein paar Hassmails hat er bekommen. „Wir brennen euch die Bude ab!“ | |
stand in den übleren, das LKA ermittelte. Passiert ist aber nichts. „Wir | |
haben ja den Natodraht“, sagt Deger und lacht. | |
Er ließ den Rummel über sich ergehen, recht war er ihm aber nicht. „Ich | |
möchte einfach nur in Ruhe meinen Job machen.“ Wirtschaftlich gebracht hat | |
ihm die unerwartete PR auch nichts. Die Leute, die ihn gefeiert haben, | |
brauchen keine Zäune und erst recht keinen Natodraht. | |
Seit der Kölner Silvesternacht soll Pfefferspray im ganzen Land vergriffen | |
sein, die Zahl der Anträge auf den „Kleinen Waffenschein“ ist sprunghaft | |
gestiegen. Und die Nachfrage nach Zäunen? Deger winkt ab, bei Mutanox sind | |
in den letzten Wochen nicht mehr Bestellungen eingegangen als sonst. | |
## „Wir schüren keine Ängste“ | |
„Nur wenn es mit der Wirtschaft bergab geht, steigt das | |
Sicherheitsbedürfnis“, sagt er. 2008, nach dem Bankencrash, wollten mehr | |
Leute Zäune kaufen als sonst. | |
Rein betriebswirtschaftlich müsste sich Deger also die Krise wünschen. Tut | |
er aber nicht. „Wir schüren keine Ängste.“ Das täten vor allem die Medien | |
mit ihren übertriebenen Schreckensmeldungen, sagt er. | |
Den Natodraht haben die Ungarn letztlich in Spanien, der Türkei und China | |
gekauft. Bei Mutanox haben sie sich nicht mehr gemeldet. | |
Jetzt wird auch in Deutschland über Grenzsicherung gesprochen. Hat Deger | |
seine Meinung geändert, würde er Horst Seehofer seinen Natodraht liefern? | |
Er glaubt nicht, dass es so weit kommt: „Natürlich liefern wir auch an | |
Ministerien“, sagt er. „Aber in Deutschland wird nicht in Kauf genommen, | |
dass Menschen sich verletzen oder umkommen.“ Von Obergrenzen hält Deger | |
nichts: „Dann grenzt man die Leute ein, die überleben dürfen. Oder?“ | |
Deger ist Fachmann für Grenzen, er muss es wissen. | |
16 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Daniel Kastner | |
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