# taz.de -- Verschleppt in Ägypten: Hundert Fragen, keine Antwort | |
> Seit 2015 sind zahlreiche Ägypter verschwunden. In geheimen Haftanstalten | |
> wird gefoltert. Viele der Verschleppten tauchen nie wieder auf. | |
Bild: Helikopterpatrouille des Militärs über Kairo. | |
KAIRO taz | Die 23-jährige Easraa El-Taweel verschwand, nachdem sie am 1. | |
Juni vergangenen Jahres mit mehreren Freunden zusammen festgenommen worden | |
war. Zwei Wochen lang fehlte jede Spur von ihr. Dann tauchte die ägyptische | |
Aktivistin und Fotojournalistin im Frauengefängnis in Qanatar auf. Die | |
Behörden beschuldigten sie, der Muslimbruderschaft anzugehören. Und: Sie | |
habe Berichte verfasst, die dem Ansehen Ägyptens schadeten. | |
Ihre Untersuchungshaft verlängerte sich immer wieder, obwohl die junge Frau | |
nach einer Schusswunde aus der Zeit des Aufstand gegen Mubarak 2011 kaum | |
ohne Hilfe gehen konnte und dringend medizinisch versorgt werden musste. | |
Erst vor wenigen Tagen ist sie „aus gesundheitlichen Gründen“ freigekommen. | |
Das Verfahren gegen sie läuft aber weiter. | |
Easraa El-Taweel ist kein Einzelfall. Bereits zuvor war der Student Nour | |
Khalil aus dem Nildelta verschwunden, nachdem er am 24. Mai festgenommen | |
worden war. Erst vier Monate später wurde bekannt, dass die | |
Staatsanwaltschaft in Alexandria ihn hatte. Nach 200 Tagen Haft gelang es | |
ihm, einen Brief nach draußen zu schmuggeln. Darin beschrieb er, wie er von | |
einem Haftzentrum zum anderen transportiert, gefoltert und erniedrigt | |
wurde, ohne dass sein Fall irgendwo registriert worden war. Seine Peiniger | |
hätten ihn schließlich, nach 122 Tagen, willkürlich einem Gerichtsverfahren | |
zugeschlagen, mit dem er nach eigener Aussage nichts zu tun hatte. | |
Aber zumindest gilt er seitdem nicht mehr als verschwunden. Immer wieder | |
plage ihn die Frage nach dem Warum, heißt es in seinem Brief, der von der | |
unabhängigen ägyptischen Nachrichtenplattform Mada Masr veröffentlicht | |
wurde. „Warum wurde ich verschleppt, warum gefoltert, warum hat man mich | |
willkürlich einem Verfahren zugeschlagen, obwohl sie wissen, dass ich | |
nichts damit zu tun habe? | |
Warum gibt das Innenministerium nicht zu, dass ich 122 Tage unter seiner | |
Aufsicht verschwunden war? In jedem Kapitel meiner Geschichte gibt es | |
hundert Warum-Fragen und keine Antworten“, schreibt er. Nur einmal habe ein | |
Zellennachbar auf alle diesen Fragen mit einem Satz geantwortet: „Weil du | |
Ägypter bist und in Ägypten lebst.“ | |
## Das Schema ist stets gleich | |
Das Schema der Verschwundenen sei stets das gleiche, erklärt der | |
Menschenrechtsanwalt Mokhtar Munir. Oftmals habe jemand noch mitbekommen, | |
dass sie vom Sicherheitsapparat festgenommen wurden. Aber dann verliere | |
sich die Spur: „Weder die Familie noch die Anwälte wissen, wo sich die | |
Person aufhält. Oft werden die Verschleppten gefoltert und Geständnisse | |
erpresst. Dann werden sie medizinisch behandelt und der Staatsanwaltschaft | |
übergeben“, beschreibt er das Prozedere. | |
Die Regierung rechtfertigt das harte Vorgehen des Sicherheitsapparats als | |
Kampf gegen den Terror. „Derweil können wir noch nicht einmal behaupten, | |
dass die Mehrzahl der Verschwunden Islamisten sind. Es finden sich unter | |
ihnen auch viele mit anderen politischen Einstellungen“, erklärt der | |
Anwalt. „Und manchmal“, sagt er, „erwischt es auch Menschen, die einfach | |
nur zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort waren.“ | |
So erging es dem Kairoer Pförtner Hani Abdel Sattar. Die Familie des | |
Pförtners lebt im Kairoer Viertel Nasr-City in einem kleinen Raum neben | |
einem bürgerlichen Wohnhaus, auf das sie aufpassen. | |
## Sie nahmen ihn gleich mit | |
Hanis Frau, Umm Muhammad, ihre drei Kinder und die Großmutter teilen sich | |
ein kleines mit Matten ausgelegtes Zimmer, dessen einziger | |
Einrichtungsgegenstand ein alter Fernseher ist, in dem gerade der Koran | |
rezitiert wird. Neben dem Raum liegt ein mit Holzpfosten gestützter | |
Verschlag, der als Küche dient. | |
„Mein Mann Hani hatte sich nebenbei noch Geld verdient, indem er in einem | |
Büro geputzt hat“, beginnt Umm Muhammad ihren Bericht. Von dort kam er am | |
10. August nicht mehr nach Hause. „Ich habe dann angerufen, und sie sagten, | |
mein Mann sei zusammen mit dem Bürochef Hischam Tayyeb von | |
Sicherheitsleuten abgeholt worden“, erläutert sie. | |
Später habe sie ihren Bruder angerufen. Der kam aus dem Nildelta, und sie | |
machten sich gemeinsam auf die Suche. Bei der Polizei habe man nichts vom | |
Verbleib ihres Mannes gewusst. Sie hätten überall nachgefragt, in den | |
Krankenhäusern, Gefängnissen, im Innenministerium und bei der | |
Staatsanwaltschaft. Nirgends bekamen sie eine Auskunft, wo sich Hani | |
aufhält. | |
## Man sagte ihr, ihr Mann sei nicht da | |
Drei Wochen später erfuhr die Familie, dass Hischam Tayyeb, der Bürochef, | |
der zusammen mit Hani verhaftet worden war, in einem Gefängnis in der | |
Kairoer Innenstadt einsaß. | |
Umm Muhammad fuhr dort hin, in der Hoffnung, dort auch ihren Mann zu | |
finden. Sie brachte für Hischam Kleidung und Essen mit, aber man sagte ihr, | |
ihr Mann sei nicht da. „Wir haben dann versucht, Hischam im Gefängnis zu | |
besuchen, aber das wurde uns nicht gestattet“, erinnert sie sich. | |
Es gab aber einige vergitterte Fenster zu Straße hin. Dort habe sie immer | |
wieder nach Hischam Tayyeb gerufen, bis dieser tatsächlich antwortete. Er | |
erzählte, Hani sei am dritten Tag nach seiner Festnahme gestorben. Weiteren | |
Details ersticken unter Umm Muhammads Tränen. | |
## Nie offiziell verhaftet | |
Ihr Bruder Muhammad Salah hat später von Mitgefangenen erfahren, was mit | |
Hani geschehen ist: Sie seien zusammen mit Hani drei Tage lang misshandelt | |
worden, wurden nackt ausgezogen, ihre Augen verbunden, ihre Körper mit | |
Elektroschocks gefoltert. Dann hätten sie Hani tot in der Zelle gefunden, | |
gibt Muhammad Salah die Berichte der Mitgefangenen wieder. „Wir wollen | |
wenigstens seine Leiche, um ihn angemessen begraben zu können“, fordert er. | |
Bis heute gilt Hani als verschwunden. Er wurde nie offiziell verhaftet, und | |
offiziell ist er auch nie gestorben. Es gibt keinen Totenschein. Hanis | |
Schwager Muhammad tritt während des Gesprächs vor die Pförtnerhütte, damit | |
die Kinder nicht die Einzelheiten über die Folter und den Tod ihres Vaters | |
mitanhören. | |
## Wir haben doch nichts mit Politik zu tun | |
Drinnen kämpft Umm Muhammad immer noch um ihre Fassung. Zwei ihrer kleinen | |
Kinder, Muhammad und Mona, stimmen in ihr lautes Schluchzen ein. „Wo ist | |
Hani?“, fragt sie immer wieder. „Er war 47 Jahre alt, munter und gesund. | |
Was haben wir verbrochen, wir haben doch nichts mit Politik zu tun?“ | |
Sie erzählt, wie sie noch im Sommer mit ihren Kindern auf dem Tahrirplatz | |
stand, um die Eröffnung einer zweiten Trasse des Suezkanals zu feiern, das | |
Prestigeprojekt von Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi, den sie zusammen mit | |
ihrem Land haben hochleben lassen. | |
Auf einem Handy gibt es noch Fotos von diesem 6. August, vier Tage, bevor | |
Hani für immer verschwand. Die Kinder schwenken auf den Fotos eine | |
ägyptische Fahne. Stolz lichten sie sich ab, vor einem martialisch | |
aufgebauten Polizisten ganz in Schwarz. Die Kinder und Umm Muhammad lächeln | |
in die Kamera. Das Gesicht des Polizisten ist nicht zu erkennen, es ist | |
hinter einer schwarzen Maske verborgen. | |
Umm Mohammeds sitzt mit tränenverschmiertem Gesicht in ihrem Zimmer. „Was | |
soll ich meinen Kindern sagen, soll ich ihnen sagen, sie sollen ihr Land | |
hassen? Dieses Land hat ihren Vater umgebracht. Ist das unser Land?“, fragt | |
sie verbittert und erwartet keine Antwort. Stattdessen fragt sie ein | |
zweites Mal, eher an sich selbst gerichtet: „Was soll ich meinen Kindern | |
sagen?“ | |
NaN NaN | |
## AUTOREN | |
Karim El-Gawhary | |
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