# taz.de -- TV-Talk Anne Will: Die Versachlicherin | |
> Anne Will talkte Sonntagabend nach vier Jahren Pause zum ersten Mal | |
> wieder auf ihrem alten Sendeplatz. Fazit: Sie kann es noch. | |
Bild: Zurück am Sonntag: Anne Will. | |
BERLIN taz | Einen kleinen Platz bekam Wolfgang Bosbach doch. Im ersten | |
Einspieler lief ein kurzes Statement von dem Unionspolitiker. Auf einen | |
festen Platz in der ersten Anne Will Talkrunde musste er trotzdem | |
verzichten. Er wird sicher, hat Will bereits angekündigt, in eine der | |
nächsten Sendungen eingeladen werden. | |
Am Mittwoch noch hatte Will im [1][Interview mit radioeins] gesagt, dass | |
sie noch nicht sicher sei, ob sie am Sonntag Köln und die Flüchtlinge oder | |
den Terror in Istanbul talken würde. Sie hat sich dann für Köln entschieden | |
– „Höchste Zeit für eine neue Flüchtlingspolitik?“ | |
In gewisser Weise ist das natürlich ein dankbares Thema für einen Auftakt: | |
Erstens hat Will auf ihrem alten Sendeplatz allein seit dem vergangenen | |
Sommer achtmal über Flüchtlinge getalkt – sogar die Kanzlerin war im | |
Oktober zu Gast. Zweitens gab es seit Langem kein Thema mehr, dass | |
Politiker und Bürger so sehr aufgeregt und beschäftigt hat, wie die | |
gewalttätigen Übergriffe in der Silvesternacht. Allerdings liegt auch genau | |
darin das Risiko. | |
Im [2][Interview mit übermedien.de] hatte Will angekündigt, dass sie sich | |
für das neue Jahr vorgenommen habe, zur Versachlichung von Debatten | |
beizutragen. Nur, wie sachlich kann eine Debatte noch sein, in der viele | |
seit nunmehr zwei Wochen wild durcheinander zu schreien und zu hassen | |
scheinen? | |
## Kaum was anders | |
Die gute Nachricht vorneweg: Anne Will kann das mit der Versachlichung. | |
Eine große Überraschung ist das nicht, immerhin konnte sie es von 2007 bis | |
2011, als sie schon einmal am Sonntagabend talkte, und sie konnte es in den | |
vergangenen vier Jahren am Mittwochabend – auch wenn sie dort 15 Minuten | |
mehr Zeit hatte. Sonst hat sich eigentlich kaum etwas geändert. Ihr Studio | |
hat sie behalten, die alten Sessel auch, die Wände sind ein bisschen blauer | |
geworden. | |
Wie so häufig hatte Will nur vier Gäste eingeladen, was dem | |
Lautstärke-Pegel und der Verständlichkeit der Aussagen gut tat, auch wenn | |
Welt-Herausgeber Stefan Aust sein Bestes gab, für zwei zu reden. Aust sah | |
sich offenbar als Mann der Zahlen und Fakten, die in der Flüchtlingsdebatte | |
ja häufig durcheinander gehen. Und so zog er irgendwann einen Zettel aus | |
der Jackett-Tasche und las seinem Nachbarn, Kanzleramtschef und | |
Flüchtlingskoordinator Peter Altmaier, ein paar selbige vor. Altmaier | |
unterbrach und korrigierte, Anne Will war „verwirrt“. | |
Bei einer anderen Zahl, die allerdings viel gefährlicher ist, versäumten es | |
allerdings sowohl Altmaier als auch Will, Aust zu berichtigen: Die Mär, | |
dass von den Flüchtlingen, die in Deutschland ankommen, 70 Prozent Männer | |
im wehrpflichtigen Alter wären. Verschiedene Politiker und Medien hatten | |
die Zahl im vergangenen Jahr verbreitet, [3][nur lässt sie sich statistisch | |
überhaupt nicht belegen]. Gerade jetzt nach Köln dient sie in rechten | |
Kreisen natürlich als herrliches Argument. Die Höckes und Petrys dieses | |
Landes dürften sich die Hände gerieben haben, dass die Aussage nun so | |
unkommentiert in einer ARD-Talkshow stehen bleiben kann. | |
## Zu hoch | |
Aust beschränkte sich fortan auf ein Argument: Egal wie wir es rechnen, die | |
Zahl der Flüchtlinge in Deutschland ist zu hoch. Und weil es langweilig | |
wäre, diesen Satz wortwörtlich wiederholen, bediente er sich denkwürdiger | |
Vokabeln: „Wir haben ja gesehen, was zum Teil sich auf der Welt auf die | |
Socken macht, um hierher zu kommen“. Er sagte tatsächlich: „was“. Im | |
Zusammenhang mit Abschiebungen sprach er davon, die „Leute wieder | |
loszuwerden“. Tatsächlich: „loswerden“. | |
Viel wichtiger aber fände er es, sie gar nicht erst reinzulassen. Wie? | |
Grenzen zu. Menschen abweisen, so wie das in Dänemark und Schweden schon | |
geschehe. Und dann, überlassen wir die Menschen ihrem Schicksal in | |
lebensunwürdigen Lagern in Ungarn und Griechenland? Aust blieb dabei: | |
Flüchtlingszahlen drastisch reduzieren. Immerhin gab er an anderer Stelle | |
zu, dass er ja nur Journalist und kein Politiker sei. Ein Glück. | |
Will hatte, so schien es, Stefan Aust schon längst aufgegeben, fragte ihn | |
kaum noch oder unterbrach ihn und übergab das Wort lieber an Ahmad Mansour, | |
„weil er richtig viel Ahnung von Muslimen hat, weil er selber einer ist“. | |
## Gewalt durch wen? | |
Der palästinensisch-israelisches Psychologe Mansour arbeitet mit | |
muslimischen Jugendlichen in Berlin und hielt nicht viel von Altmaier, der | |
hohe Töne auf die Verdienste der CDU in Sachen Integration sang. Nein, | |
meint Mansour, es gäbe in Deutschland an vielen Schulen noch immer Lehrer | |
und Lehrerinnen, die sich überfordert fühlten, Sicherheitsbeamte, die sich | |
nicht ernst genommen fühlten. | |
Viele muslimische Jugendliche könnten nicht entspannt mit dem anderen | |
Geschlecht umgehen. Das sei der Nährboden für Exzess und Gewalt. Staatliche | |
Lösungen dafür sehe er nicht – und deswegen sei auch nicht auszuschließen, | |
dass so etwas wie in Köln wieder passieren könne. | |
Nur: Wie geht man damit um? Sind die Leute, die sich nun im Pfefferspray | |
und Schreckschusspistolen bewaffnen, hysterisch oder realistisch, fragte | |
Anne Will Altmaier? Er habe Verständnis dafür, wenn die Leute sich Sorgen | |
machten – was eine starke Antwort ist für den Kanzleramtschef eines Landes, | |
das das Gewaltmonopol an den Staat delegiert hat. | |
Gar keine Sorgen scheint sich Gesine Schwan zu machen. Gewalt gäbe es | |
überall. „Das liegt doch nicht an 500.000 mehr oder weniger Flüchtlingen“, | |
sondern daran, ob wir entschieden seien, die, die zu uns kommen zu | |
integrieren. Helfen könnte zum Beispiel ein Einwanderungsgesetz, das Angela | |
Merkel vor zehn Jahren übrigens noch bekämpft hatte. | |
## Eine Frage europäischer Solidarität | |
Apropos mit dem Finger auf Andere zeigen: Altmaier vermisse in Europa auch | |
Solidarität. Er wünsche sich mehr Kooperation der Nachbarländer, wenn es | |
darum geht, die Flüchtlinge europaweit zu verteilen. Fragt sich nur, wo | |
genau diese Solidarität war, als ausgerechnet Deutschland die | |
Dublin-II-Verordnung voran trieb, nach der Flüchtlinge in dem EU-Land, das | |
sie zu erst betreten, Asyl beantragen müssen. | |
Damals baten vor allem die Länder an den Außengrenzen, Griechenland und | |
Italien, jahrelang um europäische Solidarität. Erst als Merkel im August | |
letzten Jahres quasi die Grenzen öffnete, war da ein Hauch europäischer | |
Solidarität. | |
Nach einer Stunde Sonntagstalk war dann auch klar: So viel „Neues“ gibt es | |
in der Flüchtlingspolitik gar nicht zu diskutieren. Die Schlagworte sind | |
die Gleichen wie vorher – Integration, (Ober)grenzen, kollabierende | |
Verwaltung, Einwanderungsland, Staatsversagen, Willkommenskultur versus | |
Überforderungskultur. Aber gut, wenn eine die Debatte lenkt, die was von | |
Versachlichung versteht. | |
18 Jan 2016 | |
## LINKS | |
[1] https://www.radioeins.de/programm/sendungen/der_schoene_morgen/_/anne-will-… | |
[2] http://uebermedien.de/653/sonntags-kriegt-man-voll-auf-die-fresse/ | |
[3] http://www.bildblog.de/73416/wie-falsche-bilder-von-fluechtlingen-entstehen/ | |
## AUTOREN | |
Anne Fromm | |
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