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# taz.de -- Grundbetreuung für Kinder in Berlin: Die Armut von nebenan
> Manche Eltern haben keine Zeit, mit ihren Kindern zu basteln, zu spielen,
> zu reden. Das Schutzengel-Haus in Berlin setzt etwas dagegen.
Bild: Zumbakurs mit Mareike Lißner (hinten rechts) im Schutzengel-Haus.
Berlin taz | „Im alten Schlecker-Laden wird so’ne Art Solarium eröffnet“,
meldete im Frühjahr 2014 die heute zehnjährige Defne* ihrem Onkel Murat.
Damals erschienen türkis-, orange- und ockerfarbene Wandmalereien im
Inneren des 400 Quadratmeter großen Geschäftsraums in der Friedrichsruher
Straße im Berliner Stadtteil Steglitz. Defne wohnt in diesem Bezirk, wo
bürgerliche Gründerzeithäuser dominieren. „Schau doch mal rein“, riet ihr
der Onkel, „du wirst dich wundern!“ Eine Woche später verteilte sie
Handzettel: „Hier eröffnet das Schutzengel-Haus, Kinder können nach der
Schule herkommen, bekommen Essen und Hausaufgabenhilfe, können spielen,
tanzen und Sport treiben – alles umsonst und ohne Anmeldung!“
Das in sich gekehrte Mädchen reckt ihren dunklen Wuschelkopf bei der
Erinnerung. Sie sitzt am langen Allzwecktisch des Vereins. Am anderen Ende
verspachteln gerade zwei Jungen ihr Mittagessen. Die Köchin hier komponiert
das Essen gesundheitsfördernd: Fleischgibt’s nur zweimal die Woche.
Defnes Onkel Murat Aydıner spielt gerade gegen ein Schülerteam Tischtennis.
Er trägt eine martialische Mongolenfrisur: einen Lowcut mit längerem Haar
nur auf dem Oberkopf, wo es in einer akkuraten Quaste gipfelt – ein starker
Kontrast zu seinen soften braunen Augen. Dazu fällt locker ein hellblaues
Hemd über seinen propperen Bauch – den braucht er für die Vaterrolle in
diesem Laden.
Im Tandem mit einer Expertin fürs Geschäftliche leitet Aydıner heute das
Haus. „Beim Pingpong kann man prima schüchterne Jugendliche aufbauen“,
erklärt er. Sozial, kulturell oder materiell benachteiligte Kinder und
Jugendliche sind die Zielgruppe der Berliner Kinderhilfe Schutzengel. Sie
sollen hier fürs Leben gestärkt werden. Die einst mittelständischen
Wohnblocks um die Friedrichsruher Straße verarmen zusehends. Es gibt dort
heute viele Arbeitslosengeld- II-Empfänger, fast 45 Prozent der Kinder
unter 18 stammen aus Migrantenfamilien. Träger der Kinderhilfe Schutzengel
ist die Johannes Kinder- und Jugendförderung Deutschland, ein 2013
gegründeter gemeinnütziger Verein, der von Spenden lebt.
## „Das geht dann so weiter“
Zu Beginn kursierten in der Gegend allerhand Einwände gegen das
Schutzengel-Haus, erzählt Bianca Sommerfeld, Pressesprecherin des Vereins.
„Vor allem hatte man etwas dagegen, dass wir die Kinder hier völlig
unentgeltlich betreuen. Das sei keine Hilfe zur Selbsthilfe, wenn der
Nutznießer so gar nichts beiträgt. Vielleicht meinte man, in einem so
bürgerlichen Bezirk könnten alle Familien ein bisschen zahlen.“
Zehn ErzieherInnen betreuen im Schutzengel-Haus täglich 35 bis 45
SchülerInnen im Alter von sieben bis fünfzehn Jahren. Die PädagogInnen
stimmen überein: „Etwa 60 Prozent unserer BesucherInnen kommen aus sozial
benachteiligten Haushalten oder haben Eltern, die nicht mehr mit ihnen
spielen, basteln, backen, Geburtstage feiern oder ihre Hausaufgaben
betreuen können.“ Manche Kinder werden auch körperlich vernachlässigt.
„Wenn jemand die ganze Woche das selbe T-Shirt an hat oder oft ungewaschen
ankommt“, berichtet Murat Aydıner, „reden wir mit den Eltern. Und dann die
Essgewohnheiten!“ Einem Geschwisterpärchen rieselten oft Lebensmittelreste
hinterher. Anfangs hätten sie die Hühnerknochen unter den Tisch geworfen
und einmal – beim Schwimmen – Eierschalen in den Umkleideraum. Peinlich!
Am großen Gemeinschaftstisch wird jetzt ein Kindergrüppchen ganz leise,
sogar die zappelige achtjährige Katja – sie malen, ein jedes, was es will,
mit der aus Johannesburg stammenden Montessori-Pädagogin und Yogalehrerin
Josefine Winter. Aus zartem, blassen Gesicht ruft sie später entschlossen:
„Schon nach zwei Strichen fragen sie mich: Ist das schön? Und wenn sie dann
mehr gemalt haben, meinen sie: Na, das wird wohl nichts! Das geht dann in
ihrem ganzen Leben so weiter!“
Mindestens die Hälfte der ihr Anvertrauten litten unter starkem Mangel an
Selbstbewusstsein und Neugierde, konstatiert die 26-Jährige: „Da ist kein
eigener Wunsch mehr, etwas zu lernen. Lernen ist Schule, und Schule ist
doof.“ Das Kind sei dort nur so viel wert wie seine Noten, klagt sie: „Und
zu Hause ist immer nur das Kind schuld an einer schlechten Note. Ich hätte
nicht gedacht, dass in dem anscheinend so progressiven Deutschland das
Erziehungssystem so rückständig ist.“
## Kein Geld für Ausflüge
„Dass wir hier nicht ständig angemeckert werden“, loben die meisten
SchülerInnen im Schutzengel-Haus. Am besten aber gefallen Ihnen die
gemeinsamen, für alle unentgeltlichen Ferienfreizeiten und Ausflüge in die
Berliner Umgebung. Alle erhalten hier eine Art bedingungslose
Grundbetreuung, ob sie nun aus gut verdienenden Mittelstandsfamilien kommen
oder aus Hartz-IV-Haushalten.
„Wir machen in der Familie keine Ausflüge“, berichtet Katja, eine
quecksilbrige Achtjährige mit blonden Haaren, die wild gestikuliert: „Meine
Mutter spart, mein Vater spart, und meine Schwester spart!“ Leiter Aydıner
sagt später: „Manche Familien müssen an allem sparen, manche sind geizig,
und gerade bei Migrantenfamilien scheint mir oft, dass sie alles für ein
Projekt in ihrer alten Heimat zurücklegen.“
Die PädagogInnen im Schutzengel-Haus haben meist eine professionelle
Ausbildung, aber nur das Leben selbst bereitete Murat Aydıner auf diese
Aufgabe vor. Auch in ihm erschafft und findet ein Kind hier vieles, was es
einst vermisste. Der Vierzigjährige stammt aus einer türkischen Familie.
Dass seine Eltern das Beste für ihn täten, davon war er nicht mehr
überzeugt, als sie ihn im Alter von dreizehn Jahren mit einer Cousine
verloben wollten. „Ich dachte: Wenn für die mein Leben ohnehin geplant ist,
brauch ich mich ja nicht mehr anzustrengen. Dann kam ich auf die schiefe
Bahn und schmiss nach zwei Klassen das Gymnasium.“
Ein Onkel hielt Murat Aydıners freien Fall auf. Der heutige Leiter
heiratete eine türkische Deutschlehrerin, aber zum Schutzengel-Haus kam er
eigentlich als Kickboxtrainer. Er fordert „Distanz“ und „Respekt“ im Um…
mit den Kindern: „Wir fragen nicht unnötig nach ihren Familien. Wir bauen
hier einfach eine Gegenatmosphäre auf, in der sie sich wohl fühlen.“
## Viele Alleinerziehende
Mindestens 60 Prozent der Mütter aller im Schutzengel-Haus Betreuten sind
alleinerziehend. Der Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph
Butterwegge von der Uni Köln wirft dem Staat vor, er habe noch keine
Antwort gefunden auf die neuen Partnerschaftsformen und die steigende Zahl
Alleinerziehender. Sieghard Kunze vom Jugendamt Berlin Steglitz Zehlendorf
weist diesen Vorwurf zurück. „Ich glaube schon, dass wir bereits jetzt eine
Antwort geben können. Der Staat leistet zunehmend mehr Hilfen zur Erziehung
und steigt auch sehr viel früher und umfänglicher in die Betreuung und
Unterstützung von Kindern ein. Wir müssen möglichst schnell Kontakt zu
Familien herstellen. Nicht erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen
ist“.
Ein Unterschied bleibt: Im Schutzengel-Haus kann man auf lange
Bewilligungswege verzichten – ob nun ein Flüchtlingsjunge einen Anwalt
braucht oder ein Kind am Schwimmunterricht teilnehmen möchte. Alles geht
sofort. Und: Der schulische Druck soll draußen bleiben. Vor großen Feiern
läuft das Team zur Hochform auf: backt, bastelt, organisiert Spenden für
Geschenke an die Kinder. Dass diese genügend Glückshormone produzieren,
dafür sorgen sie selbst durch Tanzeinlagen, zum Beispiel mit Zumbatrainerin
Mareike Lißner.
Lange tanzte die 23-Jährige nur privat. Bis sie eines Tages vorbeikam und
ein paar Stunden gab. Heute ist sie hier Mädchen für alles und höchste
Autoritätsperson der Kinder. Dies verdankt sie auch ihrem Äußeren, das ihr
den Spitznamen „Barbie“ eintrug. Sie käme aus dem Einzelhandel und wolle in
absehbarer Zeit eine Ausbildung in kreativem Marketing machen, berichtet
sie. Es klingt wie eine Bewerbungsvorlage. Doch dann bricht sich ihre
persönliche Geschichte hier Bahn. Mareike Lißner erzählt von
Liebesbriefchen der Kinder, von Blumen, von ungeahnter Wertschätzung.
„Ein-, zweimal die Woche werde ich hier bestimmt weiter unterrichten“,
schließt sie: „Ich hoffe so sehr, dass dieses Haus lange erhalten bleibt.
Dass alle hier zusammen erwachsen werden!“
* Alle Kindernamen geändert
6 Jan 2016
## AUTOREN
Barbara Kerneck
## TAGS
Kinderbetreuung
Kinderarmut
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Schwerpunkt Armut
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Familie
Kinderbetreuung
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