# taz.de -- Das Geschäft mit der Kunst: Erbarmungsloses Mittelalter | |
> Eine soziologisch angelegte Ausstellung: „Lübeck um 1500“ im | |
> Museumsquartier St. Annen zeichnet den überhitzten Kunstmarkt des | |
> Ostseeraums nach. | |
Bild: Zwischen Sorge ums Seelenheil und Repräsentationslust: Schnitzaltäre im… | |
Die besten Karten hatten die Zuwanderer: Arbeitsmigranten wie der Künstler | |
Hans Kemmer, der in Wittenberg gelernt hatte und 1530 wusste, was im | |
reformierten Lübeck zu malen war. Denn mit Martin Luthers Thesen wider | |
kirchliche Hierarchien, Reliquienkult und Ablass, wider jedes religiöse | |
Bildnis änderte sich der Kunstbetrieb fundamental. Da brauchte man keine | |
von Pest-Angst diktierten Totentanz-Darstellungen mehr, keine | |
Teufelsaustreibungs- und Marienszenen, schon gar keine güldenen | |
Altarbilder. Denn ab jetzt galten allein der individuelle Glaube und Gottes | |
Wort. Religion war quasi abstrakt geworden. Was sollte man da noch malen? | |
Kemmer wusste Rat: Der gnädig verzeihende Jesus mit der Ehebrecherin | |
entsprach der neuen Ideologie, und den malte er für den Lübecker Kaufmann | |
Johann Wigerinck. Das Bild, ist handlungsarm und passt perfekt in jene | |
transitorische Phase, in der die Kirche sich neu auf Inhalte besinnen | |
musste. Daran scheiterten viele Lübecker Künstler. Kemmer füllte die | |
Marktlücke. | |
## Es galt das Seelenheil | |
Zu sehen ist sein Gemälde in der Ausstellung „Lübeck um 1500“, die einer | |
spannenden, von Euphorie und Krisen gebeutelten Ära gilt. Lübeck war damals | |
reiches Haupt der Hanse und unterhielt exzellente Handelsverbindungen in | |
den Ostseeraum. In Sachen Kunst exportierte man Altaraufsätze, die bis | |
Island und Nowgorod gingen. | |
Lübecks Kunstmarkt brummte: Bis zu 40 Werkstätten schnitzten, malten, | |
schmiedeten damals für kirchliche wie weltliche Auftraggeber. Denn es galt | |
das Seelenheil: Kaufleute und Handwerkszünfte spendeten teure Altäre, damit | |
Gott ihnen gnädig sei. | |
Etliche dieser hochkarätigen Stücke zeigt die über das St. Annen-Museum | |
samt angrenzender Kunsthalle verteilte Ausstellung. Bestückt wurde sie | |
großteils aus eigenen Beständen – aufgrund eines Spezifikums der Lübecker | |
Stadtgeschichte: Zwar hatte sich um 1530 die Reformation durchgesetzt, und | |
man war froh, endlich angstfrei glauben zu können. Trotzdem dachte man | |
kaufmännisch und wollte die teuren Werke nicht zerstören. Also räumte man | |
sie beiseite und ließ es dabei bewenden. Erst als sie in den Kirchen zu | |
zerfallen drohten, erließ der Rat im 19. Jahrhundert eine | |
Denkmalschutzverordnung, die in die Gründung der heutigen Sammlung mündete. | |
## Mobilität aus Geldnot | |
Diese Anekdote spiegelt die ambivalente Kunstgeschichte Lübecks, das um | |
1500 fast ein bisschen hinter der Zeit war und die Reformation nicht einmal | |
erahnte. Es gab Kirchenkunstaufträge en masse, der Immobilienblase der | |
1990er Jahre gleich, und jeder glaubte ans ewig währende Wachstum. | |
In der Tat sind die Exponate der Schau an Pracht kaum zu überbieten: Altäre | |
von Hans Memling und Jacob van Utrecht zählen zum Dauerbestand des Museums; | |
Exponate aus Süddeutschland, West- und Nordeuropa lieh man dazu. Und das | |
nicht, um schlicht mit Internationalität zu punkten: Sehr bewusst zeichnet | |
die Schau vielmehr die weit verzweigten Handelswege nach, auf denen Stile, | |
Künstler und Kunstwerke reisten. | |
Denn auch die Menschen des Mittelalters waren mobil – oft aus Geldnot, denn | |
der Geschmack der Auftraggeber wechselte schnell: Bald genügte den Stiftern | |
Lübische Ware nicht mehr. Sie wollten das Besondere, wollten den Heiligen | |
Georg von Bernt Notke geschnitzt haben, der in den Niederlanden gelernt | |
hatte. Und sie orderten Gemälde von Hermen Rode, die weniger Gold, dafür | |
realistischere Landschaften boten, als es bis dato in Lübeck üblich war. | |
Andere Stifter beauftragen gleich niederländische Künstler, war für die | |
Lübecker eine echte Konkurrenz bedeutete. Aber was kümmerte es den | |
Kaufmann: Hauptsache, jeder sah, dass er sich einen Prachtaltar mit | |
aufwändig geschnitzten Mini-Baldachinen leisten konnte. Stifter wie er | |
waren schließlich Leute mit Horizont. | |
## Nervöse Ära | |
Und sie waren flatterhaft: Eine Generation später schon mussten es | |
süddeutsch anmutende Werke sein; rundliche Frauenkörper und emotionale | |
Gesten durchzogen jetzt die Szenerie. Madonnenfiguren der Schnitzer Veit | |
Stoß und Tilman Riemenschneider sowie ihrer Schüler waren jetzt der letzte | |
Schrei. Aber der Schritt zum Abgrund war klein: Wer die neuen Trends nicht | |
bedienen konnte, war schnell weg vom Fenster: „Die Künstler arbeiten damals | |
nicht so individuell wie heute“, sagt Kurator Jan Friedrich Richter. „Sie | |
hatten ein einmal erlerntes Formenrepertoire, anderes konnten sie nicht | |
bieten.“ Dann waren Einwanderer oder jene, die woanders gelernt hatten, im | |
Vorteil, und die Lübecker Künstler mussten auswandern – nach Hamburg, | |
Schwerin oder gar nach Schweden. | |
Solche Konkurrenzen und Künstlerwanderungen zeichnet die Ausstellung | |
anschaulich nach: Stilkunde und Soziologie schlau verknüpfend, rückt sie | |
Jubel und Verzweiflung einer nervösen Ära in den Fokus, ohne zu abstrakt zu | |
werden. Dabei gerät auch die Erbarmungslosigkeit dieser frühen | |
Globalisierung ins Visier – nur, dass der wichtigste Player damals nicht | |
Banken waren, sondern die Kirche. | |
## Künstler als Subunternehmer | |
Ganz nebenbei fragt die Schau auch, ob Bernt Notke seine stilistisch | |
vielfältigen Skulpturen alle selbst schnitzte oder ob er bloß Auftragnehmer | |
war, der Künstler als Subunternehmer anheuerte. Und warum ist sein | |
Zeitgenosse Hermen Rode so unbekannt? | |
Die Ausstellung will diese Fragen nicht erschöpfend beantworten. Sie wirft | |
sie auf, lässt einen näher treten und fokussiert in ihrem Schlussakkord | |
noch einmal den Kern norddeutsch-protestantischer Identität. Der erwähnte | |
Maler Hans Kemmer nämlich hat nicht nur den verzeihenden Jesus gemalt. Er | |
schuf auch ein packendes Totenporträt des einstigen Lübecker | |
Superintendenten Hermann Bonnus. Dessen beschrifteter Rahmen ist sechsmal | |
so groß wie das Gemälde und verweist auf das nun herrschende Primat des | |
Wortes. Abgesehen davon war die friedliche Darstellung des Toten | |
kirchenpolitisch brisant: „Seht“, scheint das Bild zu sagen: „Wir | |
Reformatoren sind keine Ketzer und kommen auch nicht in die Hölle.“ Sonst | |
könnte der Tote nicht so friedlich schlafen. | |
„Lübeck 1500. Kunstmetropole im Ostseeraum“: bis 10. Januar 2016, | |
Museumsquartier St. Annen, Lübeck | |
17 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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