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# taz.de -- Geschichtsklitterung: Verschwiegenes Armenhaus
> Lübeck hat sein St. Annen-Museum neu sortiert und will gleich das ganze
> Viertel mit vermarkten - dessen Vergangenheit passt da nicht ins Konzept.
Bild: Weltlicher Pomp: Büste des Lübecker Kaufmanns und Ratsherrn Thomas Fred…
HAMBURG taz | Die Frage ist ja immer, ob man aus der Vergangenheit lernt.
Ob man man in melancholischer Nostalgie stecken bleibt angesichts vergangen
Glanzes – oder ob man Fehler klar benennt, um sie nicht fortzuschreiben.
Das gilt auch für Städte wie Lübeck, von 1300 bis 1500 Zentrum des
Handels-Protektionsbundes Hanse. Der funktionierte gut, brachte Wohlstand,
man baute riesige Kirchen und beauftragte Heerscharen von Künstlern mit der
Erstellung des Inventars.
Doch auch wenn diese Aktivitäten religiös-wohltätig scheinen: Eigentlich
ging es ums Prestige. Weil die Bürger den Domherren ihre Privilegien
neideten, bauten sie im 13. Jahrhundert die Marienkirche, die deren Dom um
ein Winziges überragte. Und wer als Bürger was auf sich hielt, bestellte
den teuersten Altar.
## Verblichene Größe
Die Hanse löste sich 1669 auf, und Lübeck verarmte. Der eine oder andere
träumte immer mal von der Wiederbelebung der Hanse, aber die Handelswege
hatten sich gen Westen verschoben. Lübeck lag nicht mehr auf der Route.
Die Armut und das Träumen sind bis heute geblieben. Eine Kluft besteht
insbesondere zwischen dem im Zweiten Weltkrieg kaum zerstörten
kunsthistorischen Reichtum und der aktuellen finanziellen Misere. Da
knirscht es überall, da fehlt das Geld, auch nur das Wichtigste zu tun: die
Kunstschätze im Dom zu beleuchten oder die Kirchen winters bis 17 Uhr
geöffnet zu halten. Dabei wäre eine gute Präsentationspolitik nötig, denn
in Lübeck verteilen sich die Kunstschätze auf die ganze Stadt, so dass
Hinweisschilder sehr nützlich wären. „Der Denkmalschutz will keine
sichtbaren Plaketten an den alten Häusern“, sagt Hans Wißkirchen, Direktor
der Lübecker Museen.
Und so kommt es, dass man den einzigen Ort hochkarätiger mittelalterlicher
Kunstschätze nicht findet: Erst 200 Meter vor dem St. Annen-Museum findet
sich ein Pfeil. An diesem Versteckspiel hat auch dessen jüngste
Wiedereröffnung nichts geändert. Das ist schade, denn in dem Gebäude lagern
Gemälde und Schnitzereien erlesener Qualität.
Um ihnen Geltung zu verschaffen, haben die Museumsleute jetzt ein neues
Label erfunden: „Museumsquartier St. Annen“ lautet es, und es soll Insignie
nicht nur des Museums, sondern des ganzen Viertels sein. Das will man
gleich mit vermarkten. Und um zu zeigen, wie das geht, hat man in den
eigenen vier Wänden angefangen und das Museumskonzept von 1915
modernisiert. So hat man die einst bunt durcheinander stehenden Sakral und
Alltagsdinge getrennt: Im Erdgeschoss stehen Kruzifixe, Altäre,
Andachtsbilder. Das Obergeschoss zieren Relikte großbürgerlicher Wohnkultur
von 1600 bis 1800.
Bezüglich der Authentizität des Ortes ist dies im Erdgeschoss kein Problem:
Altäre in einem einstigen Klostergang – das ist ästhetisch und historisch
stimmig. Und dass die Exponate nicht alle hier standen, versteht sich. Im
Obergeschoss aber liegen die Dinge nicht so klar: Da könnte man glauben,
dass die Wand-Paneele aus dem 16. Jahrhundert schon immer hier waren. Aber
das stimmt nicht: Sie stammen alle aus Schenkungen, und die Raumflucht des
Obergeschosses wurde eigens für das Museum konzipiert.
Genau dieser Anschein des Authentischen sei Kern der alten
Museumspädagogik, sagt Kurator Manfred Eickhölter. Heute zeige man durch
grell grüne, blaue, rote Podeste, dass das Gezeigte inszeniert sei.
Im Detail ergibt das einen irritierenden Verfremdungseffekt: Die
Kombination bunter Plastik-Vitrinen und authentischer Gegenstände überzeugt
nicht. Das Screen-Feuerchen in der Küche des 18. Jahrhunderts wirkt wie ein
ironisches Zitat aus der Gegenwart, und beim Festsaal mit Intarsien des 17.
Jahrhunderts ist man der Versuchung erlegen, einen Tisch mit Trinkpokalen
aufzustellen, damit es echt aussieht. Man ist also im alten Konzept stecken
geblieben, und die Reform ist nur eine halbe.
Zudem fehlt eine wichtige Reflexionsebene: Nirgends findet sich ein Wort
über die Kluft zwischen der langjährigen Funktion des Gebäudes und den
aktuellen Exponaten. Denn nach einer Episode als Kloster für höhere
Töchtervon 1502 bis 1515 diente St. Annen ab 1601 als Armen und Waisenhaus.
Wo einst die Betten der Kinder standen, prangen heute Goldledertapeten des
18. Jahrhunderts.
Doch dies thematisiert die neue Dauerausstellung nicht; fast könnte man von
einer Überschreibung eines düsteren Kapitels, einer Vereinnahmung durch die
Oberschicht sprechen. „Das ist der Sammlungsgeschichte und der Tatsache
geschuldet, dass die Gegenstände der Armen, da aus billigerem Material,
nicht erhalten sind“, sagt Bettina Zöller-Stock, die kommissarische
Museumsleiterin. Warum das nirgends zu lesen ist? „Wir gehen ja im
Kindermuseum darauf ein“, sagt Zöller-Stock. Das aber liegt versteckt im
Hof, hat zwei Räume, und erwähnt allenfalls pflichtschuldigst, dass dies
ein Waisenhaus für arme Kinder war. Zur Verdeutlichung hat man eine
verglaste Reichen-Stube hingestellt.
Mehr hat man nicht gewagt. Und vielleicht spiegelt sich hierin auch das
Problem des umgebenden Stadtteils, der sich gerade gleichfalls von seiner
Geschichte löst: Bislang lebten Handwerker in dem nach der Ägidienkirche
benannten Viertel. Doch seit alle in Lübecks Zentrum wohnen wollen, ist die
Gentrifizierung der Backstein-Häuschen im Gange. Der Pastor erzählt von der
alten Frau, die nach 30 Jahren wegziehen musste, weil sie die Miete nicht
mehr zahlen konnte.
## Die Fassade stimmt
Es ist dasselbe wie in Hamburg und anderswo: Die Fassade stimmt, und für
die oberflächliche Vermarktung mag es reichen. Ein nachhaltiges soziales
Gefüge entsteht so aber nicht. Denn die Wirklichkeit beugt sich nicht immer
der Vision.
Das gilt auch für das St. Annen-Museum. Das wurde 2003 um die Kunsthalle
erweitert, die man in die Grundmauern der 1843 abgebrannten Klosterkirche
setzte – wohl mit dem Gedanken, die Besucher zur Moderne zu verleiten. Aber
das funktioniert nur bedingt: Die aktuelle Ausstellung „Afrika in mir“ von
Helmut Rieger wirkt in ihrem neo-expressionistischen Duktus samt
afrikanischen Original-Skulpturen etwas unmotiviert und eignet sich kaum
als Plädoyer für die moderne Kunst. Aber Kunsthallen-Chef Thorsten Rodiek
hat kein Geld für Ausstellungen und muss nehmen, was er bekommen kann.
Apropos Finanzen: Keinen Cent von den drei Millionen hat die Stadt zu der
Renovierung des St. Annen-Museums beigesteuert, das hat größtenteils die
Ernst-Possehl-Stiftung getan. Sie ist in Lübeck allgegenwärtig und greift
überall ein, wo Kulturerbe zu verkommen droht. Ein Erbe, dem die Lübecker
stets ambivalent gegenüber standen: Mit nur einer Stimme Mehrheit votierte
der Rat 1863 gegen den Abriss des Holstentors.
Inzwischen rühmt man sich damit. Es ist Emblem eines vermeintlich
gemütlichen Lübecks geworden, in dem der Wettstreit zwischen Vergangenheit
und Gegenwart aber omnipräsent ist: 2.000 denkmalgeschützte Häuser hat die
Innenstadt, 18.000 Restaurierungen gab es in den letzten Jahren, und die
Lübecker wirken überfordert. Fast widerwillig lässt man in einer Boutique
mittelalterliche Heiligen-Fresken hinter einer Plastikwand hervorlugen; im
Sportladen werden die Rucksäcke direkt gegen die alten Wandgemälde
gedrückt. Ob das den Fresken schadet? „Es ist unklar. Manche zerfallen
unter guten, andere halten unter miserablen Bedingungen“, sagt Kurator
Manfred Eickhölter.
Lübecks Politiker und Bürger identifizieren sich, soviel versteht man, nur
zögerlich mit den Relikten von einst – vielleicht aus Melancholie darüber,
dass diese Zeit vorbei ist. Andererseits beruft man sich lieber auf
Reichtum als auf Armut. Eventuell ist das auch der Grund für das
Verschweigen der Armenhaus-Vergangenheit in St. Annen: In einem Viertel, in
das jetzt Betuchte ziehen, will man niemandem mit vergangener Not
belästigen. Da soll alles glänzen wie einst.
18 Feb 2013
## AUTOREN
Petra Schellen
Petra Schellen
## TAGS
Weihnachten
Hanse
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