| # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Erdoğans Lohn der Angst | |
| > Die AKP siegte bei der Wahl nicht, weil sie Lösungen bietet. Sie schürt | |
| > Angst und Terror, um sich als starke Kraft in unsicheren Zeiten zu | |
| > inszenieren. | |
| Bild: Eine Inszenierung von Macht und Stärke: Erdoğan (M) beim Gedenken an Mu… | |
| Egal ob rechts, links oder kurdisch, in der Türkei sind sich die | |
| Oppositionsparteien in einer Sache einig: Die regierende Gerechtigkeits- | |
| und Entwicklungspartei (AKP) hat ihren überwältigenden Sieg bei der | |
| Parlamentswahl am 1. November nicht ihrem Vorsitzenden, Ministerpräsident | |
| Ahmet Davutoğlu, zu verdanken, sondern dem strategischen Geschick von Recep | |
| Tayyip Erdoğan. | |
| Nach elf Jahren als Ministerpräsident hatte sich Erdoğan im August 2014 – | |
| als der Präsident erstmals direkt vom Volk gewählt wurde – schon im ersten | |
| Wahlgang mit 52 Prozent der Stimmen durchgesetzt. Seither bestimmt der | |
| Präsident die Geschicke der Türkei, auch wenn formal noch immer ein | |
| parlamentarisches System herrscht. Jetzt hat der Präsident – obwohl | |
| eigentlich parteilos – seine Partei erneut zum Sieg geführt. Er hat damit | |
| die Schlappe wettgemacht, die die AKP bei der letzten Parlamentswahl vor | |
| nur fünf Monaten hinnehmen musste. Nach dem Debakel vom Juni hatte sich | |
| Erdoğan entschieden gegen die Bildung einer Koalitionsregierung gestemmt | |
| und stattdessen auf Neuwahlen gedrängt. | |
| Erdoğans Kalkül ging auf. Die AKP konnte ihren Stimmenanteil von 41 auf | |
| 49,4 Prozent erhöhen. Damit hat sie die absolute Mehrheit wiedergewonnen, | |
| die sie im Juni dieses Jahres verloren hatte. Mit ihren 317 Sitzen in der | |
| 550-köpfigen Großen Nationalversammlung kann die AKP zwar erneut allein die | |
| Regierung bilden, aber es fehlen ihr 13 Abgeordnete für die | |
| Fünfdrittelmehrheit, mit der sie ein Referendum über Verfassungsänderungen | |
| auf den Weg bringen könnte. | |
| Die Hauptoppositionspartei CHP, das Sprachrohr der von Erdoğan entmachteten | |
| alten säkularen Eliten, stagnierte bei mageren 25,4 Prozent. Der | |
| Stimmenzuwachs für die AKP kam größtenteils von der | |
| türkisch-nationalistischen MHP, die von 16,3 auf 11,9 Prozent abrutschte. | |
| Auch die prokurdische HDP, die im Juni dieses Jahres mit 13,2 Prozent ein | |
| Überraschungsresultat errungen hatte, musste zugunsten der AKP Federn | |
| lassen. Sie übersprang mit 10,8 Prozent nur knapp die Zehnprozenthürde. | |
| ## Angst vor dem Morgen | |
| Dass Erdoğans Strategie erfolgreich war, hat für das Land einen hohen | |
| Preis. Der Krieg mit den Kurden ist zurück. Die IS-Terroristen haben sich | |
| auch in der Türkei festgesetzt. Die Entscheidung der Wahlbürger war nicht | |
| von der Hoffnung auf ein besseres, sondern von der Angst vor einem | |
| schlimmeren Morgen bestimmt. | |
| Der klare Wahlsieg der AKP war selbst für die Parteiführung überraschend, | |
| die jeden Tag die Meinungsforscher losgeschickt hatte. Mittlerweile ist | |
| klar, dass die Stimmung erst in den letzten Tagen umgeschlagen ist, was die | |
| falschen Prognosen der Meinungsforscher erklärt. Insgesamt aber resultiert | |
| der Umschwung zwischen Juni und November vor allem daraus, dass das | |
| gesellschaftliche Klima bei der letzten Wahl grundsätzlich anders war als | |
| bei der vorigen und dass für die Wähler jeweils ganz andere Themen im | |
| Vordergrund standen. | |
| Im Juni hatte sich die Regierung in die Ecke manövriert und befand sich bei | |
| allen Fragen, die auf der Tagesordnung standen, in Erklärungsnotstand. | |
| Diverse Korruptionsvorwürfe gegen vier frühere Minister, gegen Erdoğan | |
| selbst und gegen Mitglieder seiner Familie waren nicht aufgeklärt, | |
| entsprechende Ermittlungen waren sogar behindert worden. Die Wirtschaft | |
| stagnierte, die Staatsverschuldung nahm zu, die Inflationsrate und die | |
| Arbeitslosenquote stiegen stetig an. Der Friedensprozess mit den Kurden | |
| verstörte die AKP-Anhänger des rechten Spektrums. Und der Waffenstillstand | |
| mit der PKK ermöglichte den Kurden von der HDP erstmals einen ungestörten | |
| Wahlkampf. | |
| Auch außenpolitisch hatte die Regierung eine Reihe von Rückschlägen zu | |
| verkraften. In Ägypten hatte das Militär gegen die mit der AKP verbündete | |
| Muslimbruderschaft geputscht; im Irak hatten die Schiiten die Oberhand | |
| gewonnen. In Syrien liefen die von der Türkei unterstützten sunnitischen | |
| Rebellengruppen auseinander, wobei sich viele ihrer Mitglieder der | |
| Al-Nusra-Front (Al-Qaida-Abspaltung), dem IS oder anderen dschihadistischen | |
| Gruppen anschlossen. | |
| ## Terror bestimmt die Wahlen | |
| Das größte Handicap für die AKP war damals Erdoğans Drängen auf die | |
| Einführung eines Präsidialsystems alla turca – mit ausufernden Kompetenzen | |
| für seine eigene Person. Die Idee fand in der Bevölkerung keine Mehrheit | |
| und war auch in der AKP umstritten. Selbst Ministerpräsident Ahmet | |
| Davutoğlu, der sein Amt allein Erdoğan verdankte, zeigte wenig Begeisterung | |
| für die eigene Entmachtung und opponierte vorsichtig gegen den Übervater. | |
| Dagegen hatte die Opposition im Juni Auftrieb erhalten. Mit der | |
| Verweigerung jeglicher Zugeständnisse an die Kurden saugte die MHP viele | |
| Stimmen von der AKP ab. Die CHP punktete mit ihren Sozialprogrammen. Noch | |
| günstiger stand es für die prokurdische HDP. Viele nichtkurdische Wähler, | |
| die eine Alleinherrschaft von Erdoğan fürchteten, gaben der HDP ihre Stimme | |
| – mit dem Kalkül, der Einzug der Partei ins Parlament werde eine | |
| verfassungsändernde Mehrheit der AKP verhindern. | |
| Ganz andere Motive bestimmten bei der Wahl am 1. November das Hoffen und | |
| Bangen der Menschen. Im Vordergrund standen jetzt die Angst vor | |
| Terroranschlägen, politischem Chaos und bewaffneten Zusammenstößen zwischen | |
| Militär und PKK, aber auch die Gefahr, in den Syrienkrieg hineingezogen zu | |
| werden. | |
| [1][Bei Umfragen im Mai 2015, kurz vor der Wahl vom 7. Juni, hatten noch 53 | |
| Prozent der Bevölkerung] die Arbeitslosigkeit als größte politische | |
| Herausforderung bezeichnet, im September war das nur noch für 12 Prozent | |
| der Befragten ein Problem. Umgekehrt hatten im Mai nur 14 Prozent „Terror“ | |
| oder die „Verhandlungen zur Kurdenfrage“ als primäre Bedrohung angegeben; | |
| im August waren es bereits 47 Prozent, und im September überlagerten diese | |
| beiden Punkte für 72 Prozent der Befragten alle anderen Themen. | |
| ## Ende der Waffenruhe | |
| In diesem Klima der Unsicherheit und Angst vor unkontrollierbaren innen- | |
| und außenpolitischen Entwicklungen konnten sich der Staatschef wie die | |
| Regierungspartei als Garanten der öffentlichen Ordnung präsentieren. Die | |
| AKP gewann die Wahl also nicht, weil sie Antworten auf die Probleme | |
| präsentieren konnte, wegen derer ihnen die Wähler noch im Juni die absolute | |
| Mehrheit klar versagt hatten. Sie siegte vielmehr, weil angesichts der | |
| drastischen Verschlechterung der Sicherheitslage der Ruf nach dem starken | |
| Mann zur stärksten Wahlparole wurde. | |
| Als Erdoğan am 28. April 2015 – nach zwei Jahren offizieller Gespräche mit | |
| der PKK und ihrem inhaftierten Führer Abdullah Öcalan – die Verhandlungen | |
| abgebrochen und öffentlich erklärt hatte, es gebe überhaupt kein | |
| Kurdenproblem in der Türkei und deshalb auch nichts zu verhandeln, zeigten | |
| sich weder die Bevölkerung insgesamt noch die Kurden beunruhigt. Erdoğans | |
| Äußerung wurde als Wahlkampfmanöver gewertet, weil ihm Umfragen gezeigt | |
| hatten, dass die AKP Stimmen an die MHP verliert. Nach der Wahl im Juni | |
| hatte die Opposition die relative Wahlniederlage der AKP als erfolgreiche | |
| Abwehr von Erdoğans Ziel eines Systemwechsels gefeiert und auf die Chance | |
| für eine demokratische Neugestaltung der Türkei gehofft. | |
| Die Stimmung änderte sich drastisch am 21. Juli, als bei einem Anschlag in | |
| der Kleinstadt Suruç nahe der syrischen Grenze 33 meist jugendliche | |
| Sympathisanten der prokurdischen HDP ums Leben kamen. Das Attentat wurde | |
| IS-Zellen zugeschrieben, die bereits im Mai Anschläge auf zwei Parteibüros | |
| der HDP im Südosten des Landes verübt und am 5. Juni bei einer | |
| HDP-Kundgebung in Diyarbakır eine Bombe gezündet hatten. Als Reaktion auf | |
| diesen Anschlag, aber auch auf neue Operationen des Militärs beendete die | |
| PKK die Waffenruhe, die sie einseitig erklärt hatte. | |
| Ihre „Vergeltungsaktionen“ gegen Militär- und Polizeikräfte beantwortete | |
| die Regierung mit Operationen gegen die PKK, die weit umfassender waren als | |
| in den Jahren zuvor. Zudem erklärte die Regierung, man werde diese | |
| Operationen erst beenden, wenn die PKK ihre Kämpfer aus der Türkei abziehe | |
| oder vollständig vernichtet sei. | |
| ## Höhepunkt des Terrors | |
| In den letzten drei Wochen vor der Wahl erreichte der Terror einen neuen | |
| Höhepunkt. Am 10. Oktober begingen IS-Terroristen erneut ein Attentat, | |
| diesmal in der Hauptstadt Ankara. Ziel war eine Friedensdemonstration der | |
| HDP, linker Parteien und Gewerkschaften. 102 Menschen wurden getötet, mehr | |
| als 500 verletzt. Obwohl die Täterschaft relativ schnell feststand, | |
| beharrten Erdoğan, Davutoğlu und andere AKP-Spitzenpolitiker darauf, dass | |
| der Anschlag das Werk eines „Terrorcocktails“ sei: [2][Der IS sei mit der | |
| PKK und linksgerichteten Terrorgruppen eine organische Verbindung | |
| eingegangen], die es darauf angelegt habe, die Türkei und ihre Regierung zu | |
| schwächen. | |
| In einer Bevölkerung, die nahezu täglich mit Meldungen über Anschläge der | |
| PKK und groß angelegte Militäroperationen gegen die PKK im Nordirak und im | |
| Südosten der Türkei eingedeckt wurde, fielen solche Anschuldigungen auf | |
| fruchtbaren Boden. Die Mehrheit übernahm die Version von der Täterschaft | |
| der Opfer, entsprechend stieg in den Umfragen der Stimmenanteil der AKP. | |
| Die prokurdische HDP beschuldigt Erdoğan und die Regierung, das Klima der | |
| Angst vor Terror und Bürgerkrieg bewusst herbeigeführt zu haben. Dieser | |
| Vorwurf wird auch von liberalen Türken erhoben, die jedoch häufig zugleich | |
| der PKK vorwerfen, sie habe der Regierung dadurch in die Hände gespielt, | |
| dass sie erneut Anschläge begangen hat. | |
| Dass diese Einschätzung plausibel ist, legen auch die Wahlergebnisse nahe. | |
| Die Anschläge der PKK, aber auch die Straßenkämpfe, die sich ihre | |
| bewaffnete Jugendorganisation mit Polizei und Militär in Städten im | |
| Südosten der Türkei lieferten, haben dazu geführt, dass die HDP einen | |
| Gutteil der Wähler, die die Partei im Juni neu hinzugewonnen hatte, wieder | |
| verlor. In 8 der 16 Provinzen mit hohem Anteil kurdischer Einwohner verlor | |
| die HDP zwischen 8 und 12 Prozentpunkte ihrer Stimmen – großenteils an die | |
| AKP. | |
| ## Keine Atempause für Kurden | |
| Die Verantwortung der Regierung für das von Gewalt und Terror bestimmte | |
| Klima vor der Wahl steht außer Zweifel. Diese Verantwortung beschränkt sich | |
| nicht nur darauf, dass Erdoğan die Friedensverhandlungen abgebrochen hat. | |
| Die AKP-Regierung ließ auch ein erneutes Waffenstillstandsangebot der PKK | |
| unbeantwortet, das die PKK am Tag des Anschlags von Ankara ausgesprochen | |
| hat. | |
| Das ostentative Versagen der sonst gut organisierten türkischen | |
| Geheimdienste und Sicherheitskräfte im Kampf gegen die IS-Zellen im Lande | |
| ist eine Provokation für die Opfer der Anschläge, aber auch für Mitglieder | |
| und Wähler der prokurdischen Partei, die hauptsächlichen Ziele der | |
| Attentate. So handelt es sich bei Yunus Emre Alagöz, einem der Attentäter | |
| des Anschlags vom 10. Oktober, um den älteren Bruder des Täters von Suruç | |
| vom 21. Juli. Die beiden Brüder waren Mitglieder einer Zelle aus der | |
| türkisch-kurdischen Stadt Adıyama, der auch der Selbstmordattentäter | |
| angehörte, der bereits am 5. Juni eine Bombe auf der Wahlveranstaltung der | |
| HDP in Diyarbakır gezündet hatte. | |
| Schon damals war den lokalen Behörden seit Längerem bekannt, dass die | |
| Gruppe enge Verbindungen zum IS in Syrien unterhält. Telefonate von | |
| Mitgliedern der Gruppe wurden schon seit 2013 im Rahmen der Ermittlungen | |
| gegen Al-Qaida-Sympathisanten überwacht. Auch dass es den | |
| Sicherheitskräften erst eine Woche vor der Wahl gelungen ist, einen | |
| Unterschlupf von IS-Kämpfern in der Türkei auszuheben, ist hochverdächtig. | |
| Wer hoffte, die AKP und Erdoğan würden jetzt, da sie wieder fest im Sattel | |
| sitzen, die gesellschaftlichen und politischen Spannungen mindern, sieht | |
| sich bisher enttäuscht. Davutoğlu, sein Stellvertreter Yalçın Akdoğan und | |
| Ibrahim Kalin, der Sprecher des Staatspräsidenten, setzten gleich in den | |
| ersten Tagen nach der Wahl das Präsidialsystem erneut auf die Tagesordnung. | |
| Auch in der Kurdenfrage ist keine Atempause absehbar. Über den gesamten | |
| Winter hinweg sollen die Angriffe gegen die PKK fortgesetzt werden. Das | |
| birgt die Gefahr neuer Gewaltausbrüche im Innern, und außenpolitisch wird | |
| diese Entscheidung zu noch mehr Streit mit den USA und Rußland führen, den | |
| Hauptakteuren des Kampfes gegen die IS-Terroristen. | |
| 12 Nov 2015 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.arastirmakutuphanesi.com/wp-content/uploads/2015/09/Ipsos_SRI_T%… | |
| [2] http://www.al-monitor.com/pulse/en/originals/2015/10/turkey-syria-isis-anka… | |
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| Günter Seufert | |
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