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# taz.de -- Axel Honneths Buch über Sozialismus: Freiheit, die ich meine
> Der Frankfurter Philosoph Axel Honneth untersucht „Die Idee des
> Sozialismus“ und wagt in seinem neuen Buch den „Versuch einer
> Aktualisierung“.
Bild: Textilfabrik in Bangladesch: Die internationale Arbeitsteilung hat das Ba…
Kaum ein Begriff ist durch die Geschichte vergleichbar beschädigt wie der
des Sozialismus. Im besten Falle hält man ihn für eine Sache von gestern.
Für den Leser, der mit ihm noch etwas anfangen kann, weckt ein Buchtitel
wie „Die Idee des Sozialismus“ Neugier. Wird hier ein Blick zurückgeworfen
oder versucht, wider allen Augenschein die Aktualität des Sozialismus zu
begründen?
Autor Axel Honneth, gegenwärtiger Direktor des Frankfurter Instituts für
Sozialforschung, verfolgt ein ambitioniertes Programm: Er will nicht nur
zeigen, welche historischen Erbschaften in der Idee des Sozialismus diesen
überholt erscheinen lassen, sondern er will auch einen „Versuch einer
Aktualisierung“ vorlegen, die den Sozialismus wieder zu einer attraktiven
Zukunftsvorstellung machen kann.
Honneth, der Nachfolger von Jürgen Habermas auf einem Frankfurter
Philosophielehrstuhl, ist mit allen theoretischen Wassern gewaschen; er
kennt seinen Hegel, seinen Marx. Für seinen Essay wählt er ein
eigentümliches Verfahren. Honneth will keine Gesellschaftstheorie vorlegen,
die sich kritisch an der Gegenwart abarbeitet. Honneth schwebt eine
Revision der Idee des Sozialismus vor, die er der historisch überholten
Version des Sozialismus gegenüberstellen will.
Das alte Bild des Sozialismus hält Honneth von der ökonomistischen
Vorstellungswelt des Industrialismus geprägt, die ihn unempfindlich gemacht
habe für die politischen und privaten Lebensformen „sozialer Freiheit“.
Honneth postuliert nicht nur die Beseitigung entfremdeter Arbeit, sondern
auch „die Überwindung von Zwang, Herrschaft und Nötigung in den
persönlichen Beziehungen und in der demokratischen Willensbildung. …
Insofern ist der Sozialismus heute eine Sache vornehmlich der politischen
Bürgerinnen und Bürger, nicht mehr der Lohnarbeiter …“
Eine solche Idee des Sozialismus gleicht einem Wunschzettel des
demokratisch Wünschenswerten. Es steht zu befürchten, dass eine solche
Aktualisierung nicht geeignet ist, „die Begeisterung der Massen jemals
wieder zu entfachen“. Am Ende des Buchs scheint man einige gut ausgedachte,
widerspruchsfrei formulierte Seminarpapiere in der Hand zu haben, mit denen
man Podiumsdiskussionen bestreiten kann.
## Stetiger Prestigeverlust
Sozialistische Vorstellungen können aber erst wieder an Boden gewinnen,
wenn die Erfahrung der Ohnmacht gegenüber einer alternativlosen
Gesellschaftsentwicklung bearbeitet werden kann. Der Sozialismus hat sein
Prestige eingebüßt, weil er mit dem kläglichen Zusammenbruch des
Kommunismus und dem Substanzverlust sozialdemokratischer Reformparteien in
den westlichen Ländern identifiziert wird.
Nach dem Zweiten Weltkrieg schien der Sozialismus nicht nur in Europa
attraktiv, weil er alternative Möglichkeiten gesellschaftlicher Entwicklung
anzubieten schien. Auch und gerade in der ehemaligen Dritten Welt ist
„Sozialismus“ inzwischen zu einem Decknamen der Bereicherung nachkolonialer
Eliten geworden. Im Westen ist Reform kein sozialdemokratisches Versprechen
auf Besserung mehr, sondern eine Drohung, erkämpfte Rechte rückgängig zu
machen.
Die gesellschaftliche Wirklichkeit drängt leider nicht zu der den Akteuren
abstrakt bleibenden Honneth’schen Vorstellung „sozialer Freiheit“. Auf
Solidarität, den Kernbegriff sozialistischer Bewegungen, kann auch Honneth
nicht verzichten. Solidarität ist aber keine Idee, sondern eine praktische
Erfahrung, die immer schwerer zu machen ist. Die internationale
Arbeitsteilung wie die verschärfte Trennung von geistiger und körperlicher
Arbeit haben das Band der Solidarität zerrissen. Gleichgültigkeit der
Konsumenten gegenüber dem Schicksal der Produzenten bestimmt die
alltägliche Praxis. Der Erfahrungshorizont der überwiegenden Mehrheit der
Weltbevölkerung liegt nicht im Spannungsfeld von aus der Französischen
Revolution hervorgegangenen bürgerlichen Freiheitsrechten und „sozialer
Freiheit“, mit dem Honneth seine Idee des Sozialismus begründet.
Aus diesem Grund gibt es einen weltweiten Trend zu naturwüchsigen
Kollektiven ethnischer und religiöser Art, die auch in westlichen
Gesellschaften die Menschen eher anziehen als sozialer Experimentalismus.
Der Honneth’schen Idee des Sozialismus fehlen die solidarischen Menschen,
die sich einst als Genossinnen und Genossen verstanden.
7 Nov 2015
## AUTOREN
Detlev Claussen
## TAGS
Sozialismus
Sachbuch
Politisches Buch
Politische Theorie
Theodor W. Adorno
Suhrkamp Verlag
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