| # taz.de -- Kurden demonstrieren in Berlin: Nicht nur ein Trauermarsch | |
| > Im Wedding hat die pro-kurdische Partei HDP zu einer | |
| > Solidaritätsveranstaltung aufgerufen. Dabei ging es auch um | |
| > Wählerstimmen. | |
| Bild: Zu Beginn eine Schweigeminute: HDP-Anhänger in Gesundbrunnen halten die … | |
| Der Marsch beginnt mit einer Schweigeminute. Mitten vor dem | |
| Gesundbrunnen-Center, an diesem Samstagnachmittag gut besucht, stehen | |
| plötzlich hunderte von Menschen und recken stumm Zeige- und Mittelfinger | |
| zum ‚Peace‘-Zeichen in den grauen Himmel. Unter ihnen sind alte Männer, | |
| junge Frauen mit und ohne Kopftuch, Familien mit Kleinkindern und | |
| aufgekratzte Jugendliche. | |
| Viele von ihnen sind Kurden. Sie fordern Frieden, Demokratie, Gerechtigkeit | |
| für die Türkei - und sie trauern um die „Brüder und Schwestern“, die bei | |
| den Bombenanschlägen in Ankara am 10. Oktober ums Leben gekommen sind. Sie | |
| haben sich Schilder umgehängt mit Namen und Fotos der Opfer. Und halten | |
| Schilder hoch: „Nie vergeben - Nie vergessen!“ | |
| Das Peace-Zeichen steht auch für ‚Victory‘ - für Sieg oder Triumph. Zu | |
| dieser Demonstration passt beides. Denn dazu aufgerufen hat der Berliner | |
| Ableger der Halkların Demokratik Partisi (HDP), die seit den letzten Wahlen | |
| auch im türkischen Parlament sitzt. Die Partei kämpft vor allem für die | |
| Rechte der Kurden in der Türkei. Die Anschläge von Ankara sind in diesem | |
| Zusammenhang ein hochpolitisches Thema. | |
| In der Türkei beschuldigen sich die Kurden und die türkische | |
| Regierungspartei AKP unter Präsident Erdoğan gegenseitig, für das Attentat | |
| in Ankara verantwortlich zu sein. Dabei sind knapp 100 zumeist kurdische | |
| Demonstranten ums Leben gekommen. Sie hatten für Frieden und Gerechtigkeit | |
| in der Türkei demonstriert. Im Sommer hatte es mehrere tödliche Anschläge | |
| auf ähnliche Veranstaltungen gegeben. Türkische Armee und kurdische | |
| Einheiten bekämpfen sich inzwischen täglich. | |
| ## Der Wahlkampf findet auch hier statt | |
| 350 Menschen haben sich auf Facebook zu der Solidaritätskundgebung der HDP | |
| angemeldet. Am Ende sind es mindestens doppelt so viele: Die Polizei | |
| schätzt die Teilnehmerzahl auf 650, HDP-Co-Vorsitzende Mehtap Erol spricht | |
| von 2000 Demonstranten. | |
| Darunter sind nicht nur HDP-Anhänger, sondern auch andere linke | |
| Gruppierungen. Einige Männer halten eine Flagge mit dem Konterfei des 1971 | |
| verstorbenen İbrahim Kaypakkaya in die Höhe, einer Ikone des | |
| kommunistischen Guerillakampfs in der Türkei. Später spricht auch ein | |
| Vertreter der marxistisch-leninistischen Splitterpartei „Partizan“. Diese | |
| wird vom Verfassungsschutz beobachtet. | |
| Die Kundgebung ist nicht nur ein Trauermarsch, sie ist auch Teil des | |
| Wahlkampfs. Am 1. November wählt die Türkei ein neues Parlament. Auch hier | |
| lebende Türken sind wahlberechtigt. Immer wieder rufen die Redner deshalb | |
| dazu auf, die HDP zu wählen. Sollte die Partei wieder über die | |
| 10-Prozent-Hürde der türkischen Nationalversammlung kommen, könnte das die | |
| absolute Mehrheit der AKP erneut verhindern. Die Teilnehmer rufen: „HDP | |
| gelecek, AKP gidecek“ - Die HDP wird kommen, die AKP wird gehen. | |
| Auch Hakan Taş, Abgeordneter für die Linkspartei im Abgeordnetenhaus, hält | |
| eine Rede. Er ist überzeugt, dass das „Jetzt erst recht“-Motto der HDP | |
| Erfolg haben wird, die Anschläge auf kurdische Versammlungen in der Türkei | |
| die Bewegung nicht geschwächt haben: „Wir entstehen hundertfach neu!“ Die | |
| anstehenden Wahlen verbindet er aber auch mit Verantwortung - und fordert | |
| die HDP-Abgeordneten in Ankara auf, die Anschläge aufzuklären. Als der | |
| Linkenpolitiker nach der Rede vom Lautsprecherwagen runterspringt, muss er | |
| viele Hände schütteln. | |
| ## Auch in Gesundbrunnen hat Erdoğan Anhänger | |
| Die Polizei hat den Demonstranten strenge Auflagen gemacht: Symbole der | |
| auch in Deutschland verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK dürfen nicht | |
| gezeigt werden. Höchstens ein Foto von deren Anführer Abdullah Öcalan pro | |
| 50 Teilnehmer ist erlaubt - aber bloß keins, das ihn in Uniform zeigt. Das | |
| hindert einen vor allem aus jungen Männern bestehenden Abschnitt des Zuges | |
| nicht daran, immer wieder „PKK“ zu rufen. Von dem eher ruhigen Gedenken, | |
| das der vordere Teil der Demonstration begeht, ist hier nicht viel zu | |
| spüren. | |
| Im September kam es in Kreuzberg zu einem gewalttätigen Aufeinandertreffen | |
| von jungen HDP-Anhängern und türkischen Nationalisten. Kürzlich wurde ein | |
| Brandanschlag auf das HDP-Büro verübt. 150 Polizisten sind deshalb heute | |
| vor Ort, um den Zug zu schützen. Sie laufen dicht am Rand und schauen vor | |
| allem nach oben, auf die Fenster. Denn dort stehen viele, die mit dem Motto | |
| der Kundgebung so gar nicht einverstanden sind. | |
| Auch hier im Wedding hat Erdoğan Anhänger. Die meisten blicken mit stummer | |
| Missbilligung auf die „Kurdistan! Kurdistan!“-Sprechchöre herunter. Sie | |
| filmen die vorbeiziehende Demonstration mit dem Handy. Ein Taxi rast auf | |
| der Gegenfahrbahn vorbei, der Fahrer brüllt wüste Beschimpfungen und reckt | |
| die Hände zum Zeichen der rechtsextremen türkischen Gruppierung „Graue | |
| Wölfe“, die die Kurden als Erzfeinde der türkischen Nation bekämpft. Und | |
| hier will die HDP Stimmen sammeln? | |
| Diejenigen, die das Informationsmaterial der HDP interessiert | |
| entgegennehmen, sind zufällig vorbeikommende Passanten. Ein Ehepaar bleibt | |
| stehen: Die Frau will unbedingt zuhören, der Mann zieht sie unwirsch am | |
| Ärmel, „komm weiter, das hat mit uns nichts zu tun“. Ein älterer Herr aus | |
| Jordanien, der mit seinen Enkeln spazieren geht, diskutiert angestrengt mit | |
| zwei Ordnern über Erdoğan. Er findet, der sei ein guter Muslim. „Aber ich | |
| verstehe auch die Kurden“, sagt er und klopft den Ordnern auf die Schulter. | |
| Die grinsen ihn an. | |
| ## Die Provokation bleibt nicht aus | |
| Mehtap Erol sagt: „Die türkische Flagge provoziert uns nicht mehr.“ | |
| Vielmehr wolle man zeigen, dass man sich nicht einschüchtern lasse, weder | |
| von den Anschlägen in der Türkei noch von Angriffen türkischer | |
| Nationalisten auch hierzulande. „Keine Angst, kein Aufgeben, kein | |
| Vergessen“: So ziehen die Teilnehmer der Kundgebung bis zum Leopoldplatz im | |
| Wedding durch Straßen, in denen ein großer Teil der Bevölkerung einen | |
| türkischen Migrationshintergrund hat. | |
| Am Nauener Platz, nach etwa zwei Dritteln der Strecke, lehnt sich eine Frau | |
| aus einem Fenster im obersten Stock und fängt an zu kreischen. Der Zug | |
| stoppt aufgebracht, es wird unruhig. Die Frau holt eine türkische Flagge | |
| und schwenkt sie aus dem Fenster, während sie weiter schimpft. Unten auf | |
| der Straße brüllt die Menge zurück. Es ist eine unwirkliche Szene: Eine | |
| stillgelegte Kreuzung, auf der hunderte Menschen zu einer einzelnen Person | |
| an einem winzigen Fenster hoch schreien. | |
| Auch am Straßenrand werden Beleidigungen in Richtung der Demonstranten | |
| gerufen, schließlich fliegt eine Flasche aus dem Zug heraus, es knallen | |
| Böller. Zwei Festnahmen zählt die Polizei am Ende: Für den Flaschenwerfer | |
| und einen, der den Aufzug von außen beschimpft hat. Der Nauener Platz sei | |
| in dieser Angelegenheit ein „neuralgischer Punkt“, sagt der Einsatzleiter | |
| der Polizei. Mehtap Erol sagt, von außen seien auch Eier auf den Zug | |
| geworfen worden. Sie habe die Polizei vorgewarnt. Aber die Beamten hätten | |
| den Platz aber für gesichert erklärt. | |
| ## Der Konflikt zeigt sich schon bei den Jugendlichen | |
| Wie unversöhnlich sich die Lager gegenüberstehen, zeigt sich, wenn man mit | |
| den vielen Jugendlichen spricht, die an diesem Nachmittag auf der Straße | |
| sind. Zeren ist 17 Jahre alt, gemeinsam mit ihrer Freundin Selina engagiert | |
| sie sich in der HDP-Jugend. „Nur weil es uns hier in Deutschland gut geht, | |
| dürfen wir nicht vergessen, was mit den Minderheiten in unserer Heimat | |
| passiert“, sagt sie. Zur Lage der Menschenrechte in der Türkei hat sie eine | |
| deutliche Haltung - und einen Schuldigen: „Erdoğan? Erdoğan ist ein | |
| Bastard.“ | |
| Am Straßenrand stehen zwei andere junge Mädchen, beobachten die | |
| Vorbeiziehenden und schleudern jedem, der ihnen einen Flyer geben will, ein | |
| schnippisches „Nein danke“ entgegen. Eine von ihnen sagt: „Ich bin Kurdin, | |
| aber ich unterstütze Erdoğan.“ Warum? Die Frage finden sie albern. „Erdo�… | |
| ist unser Vater, Mann“. Und lachen tun sie auch über den Anlass der | |
| Kundgebung: „Das in Ankara waren die doch selber. Das hier ist lächerlich.“ | |
| Kichernd ziehen sie weiter, um zu hören, was „die“ in den Lautsprechern | |
| über ihren „Vater“ sagen. | |
| Am Leopoldplatz, als eigentlich schon Schluss ist, rennt plötzlich eine | |
| junge Frau laut schreiend vor den Demonstranten entlang. Auch sie zeigt den | |
| Gruß der „Grauen Wölfe“. „Scheiß-Kurden“ habe sie gerufen, berichten | |
| Teilnehmer hinterher. Die Polizei drängt sie weg, ohne sich weiter darum zu | |
| kümmern. Hakan Taş beschwert sich, man hätte angesichts der Beleidigungen | |
| zumindest ihre Personalien aufnehmen sollen. | |
| Nach knapp drei Stunden ist die Demonstration beendet. Eine der letzten | |
| Botschaften geht an die Kanzlerin, die zu Gesprächen mit Erdoğan in die | |
| Türkei gereist ist: „Frau Merkel, fahren Sie in die kurdischen Gebiete. | |
| Dann werden Sie sehen, wie demokratisch die Türkei ist.“ Wie zerrissen ihre | |
| Gesellschaft ist, das hat man an diesem Samstagnachmittag in einem kleinen | |
| Teil von Berlin gesehen. | |
| 19 Oct 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Johanna Roth | |
| ## TAGS | |
| Parlamentswahl Türkei 2015 | |
| HDP | |
| Kurden | |
| Ankara | |
| Recep Tayyip Erdoğan | |
| Schwerpunkt Türkei | |
| Schwerpunkt AKP | |
| Parlamentswahl Türkei 2015 | |
| „Islamischer Staat“ (IS) | |
| Schwerpunkt Türkei | |
| Kurden | |
| Schwerpunkt Türkei | |
| Schwerpunkt Türkei | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Vor der Wahl in Kurdistan: Von der AKP im Stich gelassen | |
| Zwar hat sich die Lage beruhigt, doch die regierende AKP ist bei vielen | |
| kurdischen Wählern unten durch. Ein Besuch im Südosten der Türkei. | |
| Wahlkampf in der Türkei: Ehestifter und Uhrenbremser | |
| Um die Wahl zu gewinnen, verspricht die türkische Regierung Liebe und hält | |
| die Zeitumstellung zurück. Kann das funktionieren? | |
| Spannungen im Nordirak: Kurden protestieren gegen Barsani | |
| Deutschland liefert Waffen und bildet Peschmerga aus. Doch ein Machtkampf | |
| unter Kurden schwächt die Front im Kampf gegen den IS im Nordirak. | |
| Nach Terroranschlag in der Türkei: Zehn weitere Festnahmen | |
| 99 Menschen starben bei dem Attentat in Ankara. Ministerpräsident Davutoglu | |
| verkündet weitere Festnahmen im Umfeld von PKK und IS. | |
| Nach Absage einer Spendenaktion: Kritik an Drogeriemarktkette | |
| Kritik von den Grünen bis zur CDU: Die Absage einer Aktion zugunsten der | |
| kurdischen Gemeinde in Troisdorf von dm trifft auf wenig Verständnis. | |
| Die Türkei nach dem Anschlag: Ein Land in Trauer | |
| In vielen türkischen Städten gibt es Trauerfeiern. Die Ermittlungen | |
| konzentrieren sich derzeit auf eine IS-Gruppe in Ostanatolien. | |
| Konflikt in der Türkei: Nationalisten greifen HDP-Zentrale an | |
| Demonstranten attackieren Büros der Kurdenpartei HDP, einige brennen aus. | |
| Anhänger von Erdogan versuchen erneut, die Zeitung „Hürriyet“ zu belagern. |