# taz.de -- Die Wahrheit: Das Kind im Käse | |
> Tagebuch einer Schaufensterbetrachterin: Schluss mit dem Baby-Gebrabbel! | |
> Im Kinderladen gibt es jetzt Kurse für Gebärdensprache. | |
Beim abendlichen Schlendern zu einer Ausstellungseröffnung in Berlin-Moabit | |
fällt der Blick ins Schaufenster eines Kinderladens, wo auf einer | |
Schiefertafel neben den Kursen „Entspannter Stillstart mit Lisa“ und | |
„Windelfrei mit Franzi“ für die Teilnahme an den Veranstaltungen | |
„Babysignal Thema Farben“ und „Babysignal Thema Weihnachten“ geworben w… | |
Ratlosigkeit. Bisher war man vertraut mit „Hunger/müde/Windel voll“-Gebrü… | |
oder glücklichem Gegluckse beim Rumpatschen in der Breischüssel. Welche | |
frühkindlichen Gefühlsäußerungen aber muss man sich zu den Themen Farben | |
und Weihnachten vorstellen? Warnrufe an die Elternwelt? Achtung, rosa | |
Kuscheltiere im Kinderzimmer schaden meiner Gesundheit! Oder: Jedes Jahr | |
das blöde Theater ums liebe Jesulein, ich bin dein Baby, schau mich an! | |
Die Recherche führt zu einem Blog, aus dem Erstaunliches zu lernen ist: „N. | |
erfuhr erstmals in einem Babykurs, dass es möglich ist, mit Babys über | |
Gebärden zu kommunizieren. Da ihre Tochter Emily (8 Monate) Lieder, | |
Fingerspiele und Reime liebt, vermutet sie, dass sie gemeinsam im | |
babySignal-Kurs viel Spaß haben werden.“ | |
Wow, Baby liebt singen! Wie wird N. die aufregende Information verarbeiten, | |
dass es möglich ist, sich nonverbal mit ihrer Emily zu unterhalten, die ja | |
augenscheinlich auch noch musisch hochbegabt ist? Was aber, um Himmels | |
willen, ist ein „babySignal-Kurs“? | |
Ein Video klärt auf. Man kann sich als Baby nicht mehr darauf verlassen, | |
dass die eigenen Eltern sich gefälligst anstrengen, rauszufinden, was man | |
will, stattdessen wird man in Lerngruppen geschleppt, wo einem geschulte | |
Babyversteherinnen idiotische Lieder singend vorm Gesicht rumfuchteln und | |
sich beim Wort „Wärme“ wie ein Bauarbeiter imaginären Schweiß von der St… | |
wischen. Kein Wunder, dass die gelangweilten Eleven ihren gebärdenden | |
Müttern davonkrabbeln, um bei freier Rede inmitten Ihresgleichen Zuflucht | |
zu suchen. | |
Verstört fragt man sich, wie es bisher gelang, sich mit Babys ganz ohne | |
Studium der Gebärdensprache, dafür aber mittels sinnfreiem | |
Dutzi-Dutzi-Gebrabbel, das einem zwischen Schlaf- entzug, Baby-Blues und | |
anderen kräftezehrenden Brutaufzuchtdesastern aus dem Mund quillt, zu | |
verständigen. Spätestens jetzt ahnt man, warum das eigene Kind einst in | |
Naturwissenschaften versagte – man hat ihm nicht rechtzeitig das Zeichen | |
für „Marienkäfer“ beigebracht! Immerhin hat das Geplapper nun dank einer | |
für alle gültigen, korrekten Gebärdensprache ein Ende. Ein Wort – eine | |
Geste! Wo kämen wir denn auch hin, wenn Babys einfach nach Lust und Laune | |
auf Zeug zeigen und losquatschen würden? | |
Wie heißt es im Blog: „Beim Einkaufen kann ich Alina verdeutlichen, dass | |
man zum Beispiel den Käse erst bezahlen muss, bevor sie ihn essen darf. Sie | |
versteht die Situation dann besser und wiederholt mit Freude die neuen | |
Gebärden.“ | |
Neues Kursangebot: „babySignal Thema Käse“. Zeigefinger krümmen, an Stirn | |
führen, mehrfach antippen. | |
29 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Pia Frankenberg | |
## TAGS | |
Baby | |
Trend | |
Reiseland Namibia | |
Brandenburg | |
Justin Bieber | |
Schwerpunkt Pegida | |
Hamburg | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Wahrheit: Modeblähungen | |
Tagebuch einer Unverzichtbarkeitsforscherin: Auf ein Boxspringbett kommen | |
700 Cappuccini, aber die dann bitte ohne Kakao. | |
Die Wahrheit: Brüllende Autoritäten | |
Tagebuch einer Wüstenenthusiastin: Wer den Anfechtungen der Konsumwelt | |
entfliehen will, ist in Namibia gut aufgehoben. | |
Die Wahrheit: Altern für Mutige | |
Tagebuch einer Rehaista: Drei Wochen bei der Körpertrimmung im Nichts, | |
drumherum nur Brandenburg. | |
Die Wahrheit: Justin Biebers Großeltern | |
Tagebuch einer Popstarnahen: Auf der Flucht vor blutjungen, | |
hormongefluteten und wild gewordenen Mädchen in einem Amsterdamer Hotel. | |
Die Wahrheit: Grusel und Etiquette | |
Tagebuch einer Kritiksammlerin: Über Türenersatz, den Verlust | |
zivilisatorischer Errungenschaften und hart gesottene Omas. | |
Die Wahrheit: Wo sind die Zahnlosen? | |
Tagebuch einer Trauerfeiernden: Nach einem Gedenkfest für Harry Rowohlt zog | |
es die Trauergemeinde in ein düsteres hanseatisches Wasserloch. |