# taz.de -- Ladakh in Nordindien: Weiter Schulweg im Land der Götter | |
> Als Architekt baute Christian Hlade eine Schule im Bergdorf, heute führt | |
> er Touristen dorthin. Eine Wanderung durch das Hochland. | |
Bild: Unterricht unter dem Bild von Darwin im Schulgebäude von Lingshed. | |
Mein Atem geht schwer, der Schweiß rinnt mir am Körper hinunter. Kehre um | |
Kehre schleppe ich mich den Berg hinauf. Die Höhe macht mir zu schaffen. | |
Ein junger Mann überholt mich, mit „Tschulleh“ freundlich grüßend. Kurz | |
hinter ihm eine Frau mit einem Kleinkind an der Hand. Auch die beiden | |
schmettern mir ein „Tschulleh“ entgegen und marschieren dann zügig an mir | |
vorbei. Bis ich endlich zu Atem gekommen bin und zur Antwort ansetzen kann, | |
sind sie schon hinter der nächsten Kehre verschwunden. | |
Ich bin im Hochland von Ladakh unterwegs, wandere über mehrere 4.000 Meter | |
hohe Pässe hinweg nach Lingshed, einem kleinen abgelegen Dorf inmitten | |
hoher Berge. | |
Ladakh liegt in Nordindien und zählt zu den höchsten bewohnten Gebieten der | |
Erde. An meiner Seite wandert Christian Hlade. Er ist Geschäftsführer des | |
österreichischen Reiseveranstalters „Weltweitwandern“, eine Art Botschafter | |
für Ladakh und so etwas wie der gute Geist von Lingshed. | |
Eine Schule am Ende der Welt. Es klingt ein bisschen wie im Märchen. Ein | |
junger Mann aus Österreich macht sich auf den Weg in die Welt. Nach langer | |
Reise kommt er in ein Dorf und wird dort mit großer Gastfreundschaft | |
aufgenommen. Das beeindruckt ihn so sehr, dass er beschließt, den Menschen | |
zu helfen. Und weil er Architekt ist, will er für die Kinder in dem Dorf | |
eine Schule errichten. Geld hat er zwar keines, aber dafür umso mehr | |
Begeisterung und Überzeugungskraft. Und so gelingt es ihm schließlich, | |
viele Leute in seiner Heimat für sein Projekt zugewinnen. | |
## Die Abgeschiedenheit gefällt den Touristen | |
Christian Hlade, der einstige Architekt, ist inzwischen Reiseunternehmer | |
und führt seine Gäste dorthin, wo er vor mehr als 15 Jahren die Schule | |
baute – in die kleine Ortschaft Lingshed. Selbst heute muss man noch mehr | |
als vier Stunden über steile Pässe wandern, bevor man vom Ende der Straße | |
aus das Dorf erreicht. Zumindest ich bin so lange unterwegs. Die | |
Einheimischen legen die Strecke in weniger als der Hälfte der Zeit zurück. | |
Als Hlade das erste Mal hierher kam, war er fünf Tage lang zu Fuß | |
unterwegs. Und auch als man die Schule baute, musste das gesamte | |
Baumaterial über Pässe und durch Täler herangeschleppt werden. Jetzt wird | |
eine Straße nach Lingshed gebaut. Eigentlich sollte sie schon seit Jahren | |
fertig sein, weil der Bauunternehmer aber mit dem indischen Staat über die | |
Bezahlung streitet, ruhen die Arbeiten nun seit geraumer Zeit. Noch endet | |
die Straße deswegen einige Kilometer vor dem Ort. Irgendwann aber wird sie | |
nach Lingshed führen. | |
Schon jetzt bedeutet sie eine enorme Erleichterung für die Menschen. Fast | |
scheint es so, als bedauere Christian Hlade die Veränderung ein wenig. Er | |
gibt offen zu, dass er als Veranstalter von Wanderreisen mit Einbußen | |
rechne, wenn die Autos durch die Berge rasen und der Zanskar Treck, die | |
bisher beliebteste Himalajadurchquerung, an der auch Lingshed liegt, seinen | |
Ruf verliert. Denn parallel zur Straße wandert keiner gerne. Doch auch der | |
Österreicher kennt die Vorteile der neuen Straße für die Menschen – Ärzte, | |
Krankenhäuser und Einkaufsmöglichkeiten rücken näher. | |
## Viele arbeiten im Tourismus | |
Als wir in Lingshed ankommen, wird Hlade von den Honoratioren und den | |
Kindern erwartet. Sie stehen am Dorfeingang Spalier. Auch ich werde von den | |
Kindern des Dorfes begrüßt und bekomme einen Katak umgehängt, einen Schal, | |
den man in Ladakh besonders willkommenen Gästen zur Begrüßung schenkt. | |
Seit einigen Jahren werden die Kinder in einem größeren Schulgebäude | |
unterrichtet – indirekt hat aber Hlade auch zu dessen Bau beigetragen. Er | |
erzählt, dass „seine Schule“ damals die indische Regierung herausgefordert | |
habe. Die wollte sich nicht von irgendeinem Österreicher übertrumpfen | |
lassen – und was jahrelang nicht möglich war, in Lingshed eine große Schule | |
zu bauen, wurde nun innerhalb kürzester Zeit realisiert. | |
Auch Stanzin Thinless, der junge Guide, der uns hergeführt hat, drückte | |
hier die Schulbank. Der junge Mann verdient mittlerweile gutes Geld im | |
Tourismus. Inzwischen bringt Hlade regelmäßig Reisegruppen nach Ladakh – | |
oft genug auch nach Lingshed. Damit sorgt er dafür, dass die Menschen Geld | |
verdienen können – als Guides, Träger, Köche oder indem sie ihre Pferde und | |
Maultiere für Lastentransporte vermieten. Lingshed ist ein kleines Dorf, in | |
dem ein paar hundert Menschen leben. 60, vielleicht 70 Häuser liegen | |
verstreut in dem Hochtal. | |
Wer einen „Dorfspaziergang“ unternimmt, ist locker einen halben Tag | |
unterwegs und legt dabei auf und ab sicher tausend Höhenmeter zurück. Die | |
grün leuchtenden Felder bilden einen deutlichen Kontrast zu den kargen | |
Bergen, steile Hänge rahmen das Dorf ein. Wölfe durchstreifen die Gegend, | |
auch wenn einem Bergschrate oder Yetis auf den Bergpfaden entgegenkämen, | |
würde das niemanden wundern. | |
Zum Leben haben sich die Menschen von Lingshed eine der unwirtlichsten | |
Gegenden unseres Planeten ausgesucht. Im Winter sinkt das Thermometer auf | |
minus 30 Grad, im Sommer steigt es auf den gleichen Wert der Plusskala. Und | |
anders als man es aus den im Himalaya spielenden Bergsteigerfilmen kennt, | |
türmen sich hier auch keine meterhohen Schneemassen auf. Lingshed liegt auf | |
der Nordseite des Himalajahauptkamms und bis dahin schaffen es die Wolken | |
meist nicht. | |
Schnee oder Regen fällt fast ausschließlich auf der Südseite der Berge. Und | |
deswegen haben die Menschen ein riesiges Problem: Wassermangel. Früher | |
speisten die Gletscher im Frühjahr und im Sommer Flüsse und Bäche. | |
Inzwischen sind sie – Stichwort Klimawandel – fast abgeschmolzen, die | |
meisten Wasserläufe zu Rinnsalen verkommen. Die Felder können oft nicht | |
mehr ausreichend bewässert werden und so fällt die Ernte von Jahr zu Jahr | |
spärlicher aus. Selbst die Gerste, das Hauptnahrungsmittel in den Hochlagen | |
des Himalaja, wird knapp. Fleisch von Yaks, Ziegen oder Schafen gibt es | |
ohnehin nur an hohen Feiertagen. | |
## Für die Armen bauen noch ärmere Nepalesen | |
Dann tritt der nepalesische Schlachter des Ortes in Aktion. Er ist vor | |
Jahren als Bauarbeiter ins Dorf gekommen und geblieben. Wenn auch die | |
Menschen in Ladakh arm sind, so gibt es doch noch Ärmere. In der Regel | |
heuert man Nepalesen als Bauarbeiter an. Dass einer von ihnen dann als | |
Metzger blieb, hat einen ganz praktischen Grund: Buddhisten, und das sind | |
die Bewohner Lingsheds allesamt, dürfen zwar Fleisch essen, selbst | |
schlachten dürfen sie aber nicht. Da war es durchaus willkommen, dass für | |
hinduistische Nepalesen dieses Tabu nicht gilt. | |
Der Weg von Lingshed zurück in die Hauptstadt Leh ist auch heute noch eine | |
Zweitagesreise. Eilig hat es hier in den Tälern zwischen den | |
Himalajagipfeln ohnehin niemand. Die Straßen sind holprig, die Berge steil | |
und meist nur zu Fuß zu bezwingen. | |
Die Langsamkeit aber gibt einem die Möglichkeit, viel genauer hinzusehen. | |
Die grandiose Landschaft rast nicht vor dem Autofenster dahin, man muss sie | |
Schritt für Schritt erobern. | |
Ladakh ist ein Land, das seine Bewohner und Besucher zur Langsamkeit | |
erzieht. | |
24 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Rasso Knoller | |
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