# taz.de -- Reisen mit Kindern: Nomaden mit Elterngeld | |
> Was machen Weltenbummler, wenn sie plötzlich zu dritt sind? Nun, | |
> weiterreisen: Ein deutsch-polnisches Journalistenpaar nutzte das | |
> Elterngeld für den Roadtrip | |
Bild: Die kleine Hanna on the road. | |
Am besten gefielen Hanna die Juwelen und die goldenen Zähne", schreiben | |
Anna und Thomas Alboth in ihrem Reiseblog. Wer mag diese Goldhanna sein - | |
eine Gangsterbraut, Babuschka, Prinzessin? Das Foto zeigt ein Baby, ihr | |
Baby, keine neun Monate alt. Ein Säugling in den Händen eines Romakönigs, | |
glucksend vor Glück. Wie war sie da nur hineingeraten? Hanna Alboth ist die | |
Tochter einer polnischen Journalistin und eines deutschen Fotografen, die | |
seit 2009 das Blog "Family without Borders" betreiben. | |
Als Anna Sulewska und Thomas Alboth sich auf einer Konferenz der European | |
Youth Press in Brüssel begegneten, malten sie sich Anhaltertrips auf den | |
Balkan oder nach Jordanien aus. Gesagt, getan - verreist, verliebt. Anna | |
Sulewska zog nach Berlin, wurde Anna Alboth, bekam ein Kind, blieb zu | |
Hause. | |
Jetzt hätte es ihnen so gehen können wie all den anderen Paaren Ende | |
zwanzig. Sie wären aus ihrer WG ausgezogen, hätten sich ein Nest gebaut und | |
schwupps wären die Ideen von gestern eine ferne Erinnerung. Doch die | |
Alboths dachten gar nicht daran, ihre Freiheit aufzugeben. Als Hanna ein | |
halbes Jahr alt war, legte Thomas seinen Job in seiner Grafikagentur auf | |
Eis und Anna ihre Masterarbeit; sie suchten einen Untermieter, setzten ihre | |
Tochter in einen alten Kombi und fuhren los, der Morgensonne entgegen, zum | |
Schwarzen Meer. | |
Nach den Hippiekarawanen der Sechziger und Siebziger sind weltreisende | |
Familien wieder selten geworden: Familien, die zu viert Sri Lanka | |
durchstreifen wie die Clavins aus Kreuzberg, die mit ihrem Baby unter | |
Nomaden in Ladakh leben wie die Zwahlens aus der Schweiz oder Japan von | |
Süden nach Norden durchwandern wie die Rosenbooms aus Bayern. Die | |
Familiengruppe des Couchsurfing-Netzwerks zählt weltweit gerade mal 6.000 | |
Mitglieder - bei drei Millionen Couchsurfern ein Witz. | |
Obendrein rufen die Moderatoren junge Eltern zur Vernunft auf: "Ihr seid | |
keine Singles in den Zwanzigern, die Anhalter fahren und backpacken, wie es | |
ihnen passt. Und selbst wenn ihr es doch seid: Eure Kinder sind es nicht!" | |
Auch das Reisemedizinische Zentrum in Hamburg warnt vor den Gefahren für | |
Kleinkinder auf Reisen: vor einer "hygienisch nicht einwandfreien Umgebung" | |
ebenso wie vor Austrocknung und Sonnenstich, Badeunfälle und Malaria. | |
"Wir wussten auch nicht, ob es klappt", erinnert sich Thomas Alboth. Da sie | |
unterwegs nicht mehr Geld ausgaben als in Berlin, kamen sie mit dem | |
Elterngeld über die Runden. Eine Familienkutsche voller Babynahrung und | |
Windeln, Medikamente und Reiselektüre war ihr Zugeständnis an ihre neue | |
Verantwortung. Wenn ihre Tochter krank geworden wäre, hätten sie jederzeit | |
einen U-Turn machen können. | |
Immerhin war Hannas Start ins Leben alles andere als einfach: Sie war sechs | |
Wochen zu früh zur Welt gekommen und verbrachte viele Wochen auf der | |
Intensivstation. Doch an der Seite ihrer reiselustigen Eltern blühte sie | |
auf: In der Ukraine sagte sie erstmals "Mama", in Rumänien verliebte sie | |
sich in streunende Hunde und in Georgien spielte sie mit ossetischen | |
Kindern in einem Flüchtlingslager. | |
Während Hanna schlief, fuhren die Alboths weiter. Die Nächte verbrachten | |
sie bei Freunden, Freundesfreunden und neuen Bekannten, manchmal im Wagen, | |
selten in Hostels. "Essen, Schlaf und glückliche Eltern - mehr braucht ein | |
Baby nicht", schreiben die Alboths auf dem Blog. "Draußen mag die | |
Landschaft vorbeiziehen, doch Hannas Teddy bleibt immer der gleiche, ebenso | |
die Lieder im Radio und unsere Spiele am Morgen." | |
Und nach 20.000 Kilometern durch zehn Länder, als die Türkei bereits hinter | |
ihnen lag, das Kaspische Meer, der Kaukasus und die Schwarzmeerküste, war | |
es nicht Hanna, die die Fahrt beendete, sondern der Motor. Am Tag, als der | |
Wagen streikte, lernte Hanna laufen - am Rande einer Autowerkstatt in | |
Belgrad. | |
Die heute Zweijährige wuselt barfuß durch die WG und bietet reihum ihr | |
Frühstücksbrot an: der Mutter auf Polnisch, dem Vater auf Deutsch, dem | |
Besuch auf Englisch. Zwischendurch dolmetscht sie das Babygebrabbel ihrer | |
Schwester Mila und untermalt die Erzählungen der Eltern mit Lauten und | |
Wörtern, als erinnere sie sich bestens. | |
## Kleinkinder profitieren von Reisen | |
"Reisen regen das kindliche Gehirn an, weil sie den vertrauten Alltag | |
durchbrechen", erklärt Neurowissenschaftler Kristian Folta-Schoofs vom | |
Kompetenzzentrum Frühe Kindheit Niedersachsen. "Wenn ein weitgereistes Kind | |
später das Wort ,Haus' hört, erinnert es sich gleichzeitig an Nomadenzelte, | |
weiße Häuser in Griechenland, runde in Afrika und deutsche mit | |
Gartenzäunen. Eine solch breite Verknüpfung kann sich langfristig auch | |
ethisch-moralisch auswirken, etwa durch mehr Toleranz Fremdem gegenüber." | |
Ob die Reise um die Welt führe oder nur an die Ostsee, spiele dabei jedoch | |
keine Rolle. "Heute wissen wir, dass ein Kind ab dem dritten Lebensjahr | |
lernt, indem es verlernt - das heißt, indem es nicht mehr benötigte | |
Nervenzellverbindungen löscht", sagt Folta-Schoofs weiter. "Je mehr | |
Erfahrungen es macht, desto besser räumt es sein Gehirn auf und desto | |
differenzierter lernt es zu sehen und zu denken. Deshalb kann man ein | |
dreijähriges Kind mit neuen Eindrücken nicht überfordern." Die | |
Entwicklungspsychologin Claudia Mähler rät reisenden Familien jedoch, | |
Alltagsrituale beizubehalten: "Rituale geben Struktur und Sicherheit; sie | |
helfen Kindern, all die neuen Eindrücke zu verarbeiten. | |
## Kinder bringen Begegnung und Verständigung | |
Die Alboths reisten bis an die Ränder des zersplitterten Sowjetreichs, in | |
Gegenden wie Nagorny Karabach oder Beslan, weggeduckte Orte, deren | |
Erwähnung in den Nachrichten meist Tragödien verheißt. Doch die Nähe, die | |
sie zu den Einheimischen aufbauten, ist auf jedem Bild spürbar. "Kinder | |
sind etwas Überkulturelles", glaubt Thomas Alboth. "Früher waren wir das | |
fremde Journalistenpärchen mit Kamera, jetzt haben wir etwas Gemeinsames | |
mit all den Leuten." Selbst russische Polizisten ließen sich durch ihr Baby | |
besänftigen und verzichteten hier und da auf das Erpressen von | |
Mautgebühren. Weil die Großeltern fürchteten, ihre Enkelin ein halbes Jahr | |
lang nicht zu sehen, starteten Anna und Thomas Alboth das Weblog "Family | |
without Borders", um sie ein bisschen mitzunehmen durch den Raum und die | |
Zeit. | |
Womit sie nicht gerechnet hatten: Ihre Reise sprach sich in Windeseile | |
herum; noch bevor sie Polen verließen, meldeten sich die ersten | |
Journalisten. Besucher aus 138 Ländern verfolgen ihre Abenteuer per Blog. | |
Aus ihren Kommentaren spricht die Sehnsucht, es der reisenden Familie | |
gleichzutun - und zugleich das Gefühl, nicht ausbrechen zu können aus der | |
Mühle des Alltags: ohne Chance auf Visa, in Fernbeziehungen lebend, mit zu | |
viel Arbeit und zu wenig Geld. Für sie ist das Reiseblog nur ein Fenster zu | |
einer Welt, die sie selbst nie betreten werden. | |
Neues Kind, neuer Trip. Die Alboths schreiben schon an der Fortsetzung | |
ihrer Geschichte: Mitte Oktober geht es mit Hanna und der jüngsten Tochter | |
Mila im Auto von Mexiko nach Panama. "Auto!" Das lässt sich Hanna nicht | |
zweimal sagen. Sie greift ihren Rucksack und läuft schon mal zur Haustür. | |
22 Oct 2011 | |
## AUTOREN | |
Christina Felschen | |
## TAGS | |
Wandern | |
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