# taz.de -- Konkurrenz um tote Körper: „Es wäre lächerlich“ | |
> Die Bremer Gesundheitsbehörde will Leichen von Hamburg beschauen lassen. | |
> Ist das sinnvoll? | |
Bild: Der Fall Lazarus beweist: Eine Leiche genau anschauen kann Leben retten. | |
taz: Herr Klintschar, wer hat Sie aufgefordert, ein Konzept für die Bremer | |
Rechtsmedizin zu entwerfen? | |
Michael Klintschar: Später, im Sommer, hat die Bremer Gesundheitsbehörde | |
uns, also das rechtsmedizinische Institut der Medizinischen Hochschule, | |
aufgefordert, eine Konzeption einzureichen, mit einer Frist. Das haben wir | |
auch getan. Aber im Grunde habe ich mich als erstes selbst aufgefordert, | |
als ich erfahren hatte, dass Bremen da etwas plant. Und es mit Hamburg | |
plant. Und da habe ich mich schon gewundert, warum fragen die nicht auch | |
hier in Hannover nach. Schließlich sind wir Nachbarn. | |
Vielleicht, weil Klaus Püschel vom UKE sogar Dekubitalulcera, also | |
Liegegeschwüre entdeckt, wie der fürs Thema zuständige Referatsleiter lobte | |
...? | |
Selbstverständlich findet er die. Die finden wir doch auch. Jeder | |
Rechtsmediziner sieht die – sonst wäre die Sache ja witzlos: Bei der | |
Leichenschau geht es darum, sämtliche Auffälligkeiten am Toten zu notieren. | |
Also hat der Referatsleiter sich danach nicht erkundigt, als er Sie einen | |
ganzen Tag an der MHH besucht hat? | |
Einen ganzen Tag?! | |
Hat er gesagt ... | |
Er hat uns hier besucht, das ist wahr. Da ist das Schlagwort | |
Dekubitalulcera zwar gefallen, aber nur ganz am Rande. Wir hatten ein | |
nettes Gespräch, bei dem ich aufgefordert worden war, ein Konzept | |
einzureichen. | |
Mit welcher Zielsetzung? | |
Was mir ein wenig seltsam vorgekommen war, ist, dass die im engeren Sinne | |
rechtsmedizinischen Fragen dabei keine Rolle gespielt haben, sondern es vor | |
allem um die amtsärztlichen Belange ging, die in Bremen die Rechtsmedizin | |
mitübernimmt. | |
Also die sonst vom Amt betreuten herrenlosen Leichen und die | |
Krematoriums-Leichenschau? | |
Ja, das ist eine Bremensie, das habe ich auch erst gelernt. Ich hatte in | |
dem Gespräch aber darauf hingewiesen, dass es da ja eine bewährte Struktur | |
in Bremen gibt, an der man aus meiner Sicht nicht vorbeikommt, die man | |
deshalb in ein neues Konzept integrieren müsste. | |
Sie nennen in Ihrem Konzept die Leichenschau am Fundort den „Goldstandard“. | |
Die Gesundheitsbehörde sagt, darüber gebe es geteilte Meinungen? | |
Die überwiegende Mehrzahl aller Rechtsmediziner halten eine Leichenschau | |
vor Ort für unerlässlich. Wie sonst könnten absolut notwendige | |
Beobachtungen über beim Leichnam gefundene Medikamente, ärztliche Berichte, | |
potenzielle Tatwaffen etcetera in die Befundung einfließen? | |
Klaus Püschels Konzept sah aber eine zentrale Leichenschau vor? | |
Das hat aber keine fachliche, sondern allein ökonomische Gründe: Es spart | |
Geld. | |
Aber der Transport verursacht doch auch Kosten? | |
Das stimmt, und man bräuchte auch ein eigenes Kühlhaus. Aber für die | |
Leichenschau selbst brauchen Sie Fachärzte, während Sie alles andere an | |
Hilfskräfte delegieren könnten. Durch Zentralisierung sparen sie Stellen. | |
Aber fachlich – nein, in vielen einschlägigen Gesetzen ist das Entfernen | |
einer Leiche vom Fundort sogar ausdrücklich verboten, es sei denn, eine | |
Leichenschau ist dort durch äußere Bedingungen gänzlich unmöglich. Aber | |
selbst dann ist natürlich der Fundort genauestens zu dokumentieren. Es wäre | |
lächerlich, eine qualifizierte Leichenschau einzuführen – und dafür dann | |
die Toten an einem zentralen Ort zu sammeln. | |
Aber spielt das fürs gesundheitspolitische Ziel einer genaueren | |
Todesursachen-Statistik eine große Rolle? | |
Dieses Ziel werden Sie durch eine qualifizierte Leichenschau nicht | |
erreichen. Das sehen Sie ja gerade in Hamburg gut, wo man alle unklaren | |
Todesfälle im Rahmen einer zentralen Leichenschau inspiziert. Angaben zur | |
Todesursache werden nach einer solchen Leichenschau nie gemacht. Da gibt es | |
stattdessen einen Stempel: „Todesursache nur durch Sektion zu klären“, | |
damit wird jeder Fall versehen. | |
Wozu dient die Leichenschau denn dann? | |
Sie hat einen klaren forensischen Vorteil: Es geht darum, die große Zahl | |
der unentdeckten Gewaltverbrechen zu verringern. Um die Todesursachen | |
aufzuklären und die Mortalitätsstatistik zu verbessern, wäre eine genaue | |
Anamnese im Dialog mit dem behandelnden Arzt und im Zweifel die Obduktion | |
das Mittel der Wahl. | |
7 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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