| # taz.de -- Die Wahrheit: Drama, Baby! | |
| > Auch Wörter können ihre Bedeutung ändern oder anders verwendet werden. | |
| > Besonders crazy geht es bei Begriffen für abweichende Seelenzustände zu. | |
| Bild: Schierer Irrsinn: Hannover-96-Trainer Michael Frontzeck hält sich für �… | |
| Jeder will normal sein, dabei ist das Normale dem Durchschnittlichen, | |
| Mittelmäßigen und Gewöhnlichen wesensverwandt. Interessant sind und bemerkt | |
| werden, weil sie auffallen, die Abweichungen; während das Normale, | |
| Angepasste und Vernünftige langweilig ist, übersehen wird oder Überdruss | |
| hervorruft. Es wird also seinen Grund haben, dass Dinge, die aus dem Rahmen | |
| fallen, mit Vokabeln aus dem Gegenreich der Unvernunft und Torheit belegt | |
| werden wie „Wahnsinn“, „toll“, „verrückt“ „crazy“ oder, da wir… | |
| vom rechten Weg ausdrücklich gefeiert, mit „irre“. | |
| „Es war ein tolles Jahr, in dem ich wahnsinnig viel gelernt habe“, | |
| resümiert Juliane Leopold von BuzzFeed Deutschland im taz-Interview; „man | |
| braucht einen Schuss Wahnsinn“, gesteht Kontext zufolge auch eine | |
| Journalistin, die mit einer Reportageseite im Internet Geld verdienen will. | |
| „Irrsinniges Talent“ sagt die taz dem Dokumentarfilmer Johannes Holzhausen | |
| nach; eine Juristin bekennt (ebenfalls in der taz), ihr Beruf mache ihr | |
| „unheimlichen Spaß“; und Studenten sind gegen Semesterende selbstredend | |
| „wahnsinnig gestresst“ (so das Göttinger Universitätsmagazin Augusta). Der | |
| Druck der Normen und Regeln ist offenbar so groß, dass schon eine irre | |
| kleine Abweichung vom Mittel genügt, damit etwas als crazy gilt. | |
| ## Irre normal | |
| Man kann vermuten, dass der verrückte Bedeutungswandel dieser tollen Wörter | |
| im 18. Jahrhundert einsetzte, als mit dem Aufstieg des Bürgertums das | |
| Rationale und Nützliche als Ideal etabliert wurde und sich folglich, | |
| bewusst oder unbewusst, eine verrückte Gegennorm, eine Opposition | |
| herausbildete. Möglicherweise begann der Wandel aber schon früher wie im | |
| Fall „toll“. Das Adjektiv bedeutete anfänglich, so teilt es Grimms | |
| „Deutsches Wörterbuch“ mit, „des oder wie des verstandes beraubt und | |
| darnach sich geberdend, unsinnig, tobsüchtig, närrisch“: Aber, heißt es | |
| weiter, schon im späten 16. Jahrhundert drückt „‘toll‘‚ auch gute | |
| eigenschaften aus, indem der begriff des ausgelassenen und lärmenden | |
| übergeht in den von lustig und fröhlich, der des wunderlichen und | |
| auffallenden in den von bewundernswert, zum verwundern gut, grosz und | |
| schön“. | |
| Das Grimm‘sche Wörterbuch verzeichnet sogar einen mittelhochdeutschen | |
| Beleg, und wirklich begann bereits im hohen Mittelalter die Vernunft | |
| langsam in die Menschen zurückzukehren. Bis zur Diktatur des Sachzwangs, | |
| der irre alternativlos regiert, war es freilich ein wahnsinnig langer Weg. | |
| Inzwischen ist der tolle Sprachgebrauch nicht nur unheimlich inflationär | |
| geworden, sondern geradezu – irre normal. Deshalb haben in den letzten | |
| Jahren einige weitere Wörter wie verrückt, nein: „dramatisch“ an | |
| Beliebtheit gewonnen. „Dramatisch“ bedeutete früher „spannend, bedrohlic… | |
| unter Philologen auch: „in Form eines Theaterstücks“. Heute verfügt Holla… | |
| über eine „dramatisch verjüngte“ Fußballmannschaft (taz), ein Konzern | |
| erzielt „einen dramatisch höheren Gewinnanteil“ (taz), und „die Zahl der | |
| Demokratien in der Welt wuchs dramatisch“ (Spiegel) – nehmt euch also in | |
| Acht, Leute! Auch die Patienten sehen sich besser vor, denn im Kampf gegen | |
| Krankenhausinfektionen sind mancherorts „die Erfolge dramatisch“ (Spiegel). | |
| ## Dramatisches Ende | |
| Der Fußballtrainer Jürgen Klopp fühlte sich „für eine Niederlage dramatis… | |
| verantwortlich“, und dass in Deutschland mehr englische Literatur als | |
| türkische gelesen wird, findet eine Türkischübersetzerin „nach 50 Jahren | |
| Migration dramatisch“. Ein „dramatisches Ende“ aber nahm laut Göttinger | |
| Tageblatt vom 2. 10. 2012 Dirk Bach, der kurz vor einer Theaterpremiere | |
| starb – „woran, war gestern noch völlig unklar“. Dramatischerweise könn… | |
| er friedlich im Schlaf gestorben sein. | |
| „Dramatisch“ bedeutet also nicht „dramatisch“, sondern „drastisch, | |
| beachtlich, groß, viel, sehr“, auch „unverhältnismäßig“, „unerwarte… | |
| „unnormal“ und mitunter gar nichts. Man könnt’ von so viel Drama, wo weit | |
| und breit keines ist, ein Trauma erleiden, schon weil auch ein „Trauma“ | |
| längst kein Trauma mehr ist. Eigentlich handelt es sich um eine gewaltsame | |
| Verletzung körperlicher Natur oder seelischer Art. Sprachlich ist ein | |
| Trauma bloß eine ungute Erinnerung: Hollands Fußballer leiden an einem | |
| „Final-Trauma von 2010“, behauptete das Göttinger Tageblatt 2014; wie sehr | |
| es die Kicker lähmte, konnte man im selben Jahr sehen, als die Elftal gegen | |
| die Spanier mit 5:1 eine drastische, nein: dramatische Revanche nahm für | |
| die Endspielniederlage vier Jahre zuvor. | |
| ## Milliarden sind traumatisiert | |
| Für die Grünen gilt seit der verkorksten Bundestagswahl 2013: „Ganze 63 | |
| Bundestagsabgeordnete werden es als kleinste Opposition schaffen müssen, | |
| die traumatisierte Partei zu heilen.“ (taz) Nicht besser dran sind die | |
| Katholiken: „Benedikt XVI. lässt eine traumatisierte Gemeinde hinter sich“, | |
| schrieb die taz nach seinem Rücktritt – über eine Milliarde Katholiken sind | |
| seither in psychiatrischer Behandlung und leisten den Journalisten | |
| Gesellschaft. Sie, liebe Leser, sind von dieser irre dramatischen Pointe | |
| hoffentlich nicht traumatisiert! | |
| 28 Sep 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Peter Köhler | |
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