| # taz.de -- Die Wahrheit: Das 80-Millionen-Ding | |
| > Statt von einem Ich spricht alle Welt nur noch vom Wir. Wer soll das | |
| > sein? Hier tut mal wieder eine Sprachkritik Not. | |
| Bild: Der Hohepriester des Wir und Bundespräsident Gauck, hier mit Herde im Gr… | |
| „Ich habe so viele Formulare ausfüllen müssen, dass es mir bald lieber | |
| wäre, mein geliebter Mann wäre überhaupt nicht gestorben“, soll einmal, | |
| glaubt man Sammlungen unfreiwilliger Komik, eine frisch Verwitwete an die | |
| Versicherung geschrieben haben. Ein ähnlicher Stoßseufzer konnte sich einem | |
| nüchternen Beobachter nach dem Absturz eines Airbus in den französischen | |
| Alpen entringen, bei dem zahlreiche deutsche Insassen den Tod gefunden | |
| hatten. | |
| Was für sie, ihre Freunde und Angehörigen ein furchtbares Unglück war und | |
| für die Lufthansa sowie vielleicht ihre Aktionäre ein schwerer Schaden, | |
| wurde von Politikern und Medien als nationale Katastrophe beheult, mit | |
| Flaggen auf halbmast, Schweigeminute im Bundestag, Trauerflor am Trikot der | |
| deutschen Fußballauswahl bei ihrem Spiel gegen Australien sowie einem | |
| Bundespastor Gauck, der sich als ungebetener Gast an die Hinterbliebenen | |
| ranwanzte, denn „ich bin ganz bei Ihnen“. | |
| Es fehlte nur, dass die Journaille, die die Nation rund um die Uhr mit | |
| überflüssigen und pietätlosen Details auf dem Laufenden hielt, mit einer | |
| Schlagzeile à la „Warum wir alle Airbus sind“ aufgewartet hätte. Das Wir | |
| nämlich hat es ihr angetan, nicht erst seitdem Bild der Titel „Wir sind | |
| Papst!“ gelang. Vom Spiegel bis zur Apotheken-Umschau, vom Göttinger | |
| Tageblatt bis zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird das Wir-Gefühl | |
| wachgerufen: „Jetzt holen wir uns den WM-Titel!“, „Der globale Kampf ums | |
| Erdöl – Warum wir die Energiewende brauchen“, „Wie wir Opel wurden“, �… | |
| wir Deutschland mögen“, „Wie uns der Fußpilz quält“ und so weiter und … | |
| fort ... | |
| ## Wir sind alle Deutschland | |
| Wo Ich war, soll Wir werden, ließe sich Freuds Theorie fortschreiben. Wie | |
| in der Praxis daran gearbeitet wird, zeigte sich beispielhaft 2006, als | |
| hierzulande die Fußballweltmeisterschaft ausgetragen wurde. Die | |
| Werbekampagne „Du bist Deutschland“ sollte die 80 Millionen Ichs verleiten, | |
| sich ans Vaterland, ans teure, anzuschließen, und wie zufällig kam in der | |
| Kampagne ein Foto aus der Nazizeit zum Einsatz, das ein Spruchband mit der | |
| Parole „Denn du bist Deutschland“ zeigte: Der Weg führt vom Ich über das … | |
| zum Wir – wie man aus einem Volk eine Gemeinschaft macht, ist in | |
| Deutschland kein Geheimnis. | |
| Die Politik ist der Wurmfortsatz der Wirtschaft, das dürfte auch kein | |
| Geheimnis sein. 2013 trat die SPD unter der Losung „Das Wir entscheidet“ | |
| zur Bundestagswahl an, nachdem (nicht: obwohl) bereits seit Jahren eine | |
| Leiharbeitsfirma mit diesem Slogan für ihr Tun warb. | |
| Unternehmen setzen aufs Wir-Gefühl, denn das Management braucht den Kitt, | |
| der die Belegschaft zur schlagkräftigen Truppe verschweißt: „Wie Sie das | |
| Wir-Gefühl in Ihrem Team stärken“ und die „Teambildung voranbringen“, | |
| lehren Fachmagazine und Netzseiten und wenden sich bezeichnenderweise nicht | |
| an das Team, sondern an dessen Leiter, den Anführer. | |
| ## Völkische Zwecke | |
| Das „Wir“ zielt auf die Vereinnahmung des Individuums, das aufs wichtigere | |
| Ganze eingeschworen wird, ohne die sozialen, ökonomischen und politischen | |
| Machtverhältnisse anzutasten. Dass es ist nicht die einzige Vokabel ist, | |
| die dem völkischen Zweck dient, dürfte nachvollziehbar sein, und genau | |
| dieses Verb zählt auch dazu. | |
| Statt zu begreifen oder dahinterzukommen, wird nachvollzogen – erklärlich | |
| in einer Gesellschaft, die zum Konsens, zum Gleichtakt strebt. (Um das Wort | |
| Gleichschaltung zu vermeiden.) Was man denkt, sagt und fühlt, muss | |
| nachvollziehbar sein, sonst geht das Gejammer los. | |
| Kann man die Gebührenforderungen von ARD und ZDF nicht billigen, so sind | |
| sie „nicht nachvollziehbar“ (Grünen-Medienexperte Malte Spitz). Findet man | |
| die Herabstufung von Ländern durch die Rating-Agenturen ungerechtfertigt, | |
| so ist sie „nicht nachvollziehbar“ (Allianz-Volkswirt Rolf Schneider). | |
| Meint man, die Kritik an der Vorratsdatenspeicherung sei unbegründet, so | |
| ist sie „nicht nachvollziehbar“ (Jurist Hans-Jörg Albrecht). | |
| Um Gemeinschaft zu stiften, ist Nachvollziehbarkeit gewünscht. Angela | |
| Merkel weiß es! Kritik an den Banken war und ist populär, also kann die | |
| Kanzlerin „sie und vieles mehr sehr gut nachvollziehen“. Das sorgt für | |
| breite „Akzeptanz“, doch sie hätte genauso gönnerhaft sagen können, sie | |
| nehme die Kritik ernst, und zwar so wie der Arzt eine Krankheit. In beiden | |
| Fällen sorgt die Regierung für ein schönes Wir-Gefühl und dafür, dass sich | |
| nichts ändert. | |
| ## Okay - oder nich? | |
| Aber das ist „okay“ – ein Wörtchen, in dem sich ebenfalls der Wunsch nach | |
| Zustimmung und Gemeinschaft kundtut. Der tobt sich selbst im Kabarett aus: | |
| Dieter Nuhr und Carolin Kebekus holen sich mit den geistverwandten | |
| Partikeln „ne?“, „nich?“ (Nuhr) beziehungsweise „ne?“, „oder?“ … | |
| alle naslang das Ja ihres Publikums ab. | |
| Frühere Generationen wurden nach dem rohen Prinzip von Befehl und Gehorsam | |
| erzogen. Die heutige wird schon im Kleinkindalter von den Eltern mit | |
| Okay-Fragen malträtiert und auf Einverständnis gedrillt, an die Stelle der | |
| offenen Gewalt tritt die feine psychische Zurichtung. | |
| Diese „These geht okay“ (Konkret) – das können Sie sicher nachvollziehen? | |
| 20 Jul 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Peter Köhler | |
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