# taz.de -- Freiwilligendienst im Ausland: Das Treiben der Zugvögel | |
> Viele junge Deutsche zieht es ehrenamtlich ins Ausland. Der Entwicklung | |
> vor Ort bringt das wenig – sie selbst profitieren davon aber sehr. | |
Bild: Von der Gastoma lernt Steffen Geis nicaraguanisch kochen. | |
Berlin taz | Der Herbst hat sich an diesem Wochenende durchgesetzt. Auf den | |
Straßen drängeln Autos, daneben kämpfen Fahrradfahrer und Fußgänger mit dem | |
Wind. Steffen Geis trägt seine Winterjacke; an die Kälte in Deutschland | |
musste er sich erst wieder gewöhnen. Er schaut sich um und versucht seine | |
Verwandlung nach dem Auslandsjahr zu erklären. | |
„Siehst du den Baum da auf dem Mittelstreifen?“, fragt er. „Früher dachte | |
ich, der Baum ist so, wie ich ihn von hier aus sehe. Dabei könnte ich ja | |
die Straßenseite wechseln, und von dort drüben sieht er ganz anders aus.“ | |
Perspektivenwechsel, wie ihn Steffen Geis während seines | |
Freiwilligendienstes in Nicaragua erfahren hat. Seit er die Perspektive auf | |
der anderen Seite des Atlantiks kennengelernt hat, hat sich seine Sicht auf | |
die Welt grundlegend verändert. | |
Die Geschichte seiner Verwandlung beginnt im Oktober 2013, als Steffen Geis | |
nach Nicaragua geht, um einen entwicklungspolitischen Freiwilligendienst zu | |
absolvieren. In der Stadt Masaya arbeitet er 13 Monate in einem lokalen | |
Sozialprojekt. Tagsüber leitet er Theaterkurse für Kinder und Jugendliche | |
oder gibt Mathematiknachhilfe für Schüler, abends entspannt er im Innenhof | |
in der Hängematte unter Limettenbäumen. Er meldet sich aus Facebook ab und | |
lernt nicaraguanisch zu kochen. | |
Er ist damit einer von zahlreichen Freiwilligen, die Deutschland für ein | |
Jahr gen Süden verlassen, und viele werden dabei durch das Programm | |
„weltwärts“ staatlich gefördert. Solange es dieses Programm gibt, steht es | |
in der Kritik. „Entwicklungspolitischen Wert hat es nicht“ , sagt Claudia | |
von Braunmühl, die an der Freien Universität Berlin Internationale | |
Beziehungen lehrt und als entwicklungspolitische Beraterin tätig ist. | |
Bei „weltwärts“ stehe das Ego der Freiwilligen und die Weiterqualifizierung | |
europäischer Jugendlicher aus der Mittel- und Oberschicht im Vordergrund. | |
Die Projekte vor Ort könnten es sich aufgrund der finanziellen Abhängigkeit | |
vom Westen gar nicht leisten, Freiwillige abzulehnen, sagt von Braunmühl, | |
auch wenn sie zugesteht, dass die Entsendeorganisationen selbstkritischer | |
geworden sind. | |
## Nützlich erst nach sechs Monaten Eingewöhnung | |
Pablo Schickinger kennt die Kritik an den Freiwilligendiensten. Der | |
Programmleiter der „Weltweiten Initiative für Soziales Engagement“ (WI) | |
sitzt in einem Restaurant in Berlin-Wedding vor einem Falafel-Teller. Er | |
trägt trotz des kühlen Wetters Jeans, T-Shirt und Badelatschen. Nach dem | |
Abitur hat er vor Jahren einen Freiwilligendienst in Chile absolviert; | |
diese Erfahrung wollte er auch anderen Menschen ermöglichen. Er besuchte | |
Sozialprojekte auf vier Kontinenten und gründete mit Freunden im | |
sächsischen Bad Elster die Initiative – seitdem dreht sich sein Leben um | |
die Begleitung von Freiwilligeneinsätzen. An diesem Tag führt ihn ein | |
Treffen mit Studenten, die die Webseite von WI weiterentwickeln, nach | |
Berlin. | |
„Unter Entwicklungshilfe verstehen wir, der Entwicklung der Jugend zu | |
helfen“, sagt er. „Es stimmt, dass wir dafür die Situation der Menschen in | |
den Einsatzländern als Katalysator benutzen.“ Überhaupt beginne ein | |
Freiwilliger erst nach sechs Monaten Eingewöhnungszeit für sein Projekt | |
nützlich zu werden. Die Qualität solcher Programme sieht er ganz woanders: | |
Die Freiwilligen tragen ihre Erfahrungen zurück in die deutsche | |
Gesellschaft. | |
Die Vermittlungsarbeit übernehmen Rückkehrer wie Steffen Geis. Am Abend | |
steht er im Berliner Olympiastadion in einem Meer aus rot-weißen Fahnen – | |
Fußball, so wie früher jeden Samstag. Heute singt er nicht mehr alle | |
Fanlieder mit, weil ihn der Patriotismus der Texte stört. Nach dem Spiel | |
strömen die Massen aus dem Stadion in die U-Bahn. In einer Duftwolke aus | |
Schweiß und Bier analysieren selbsternannte Experten das Spiel. Steffen | |
beschäftigen andere Fragen: „Hey, Atze“, stößt er seinen Kumpel an. „J… | |
sag du mal deine Meinung, brauchen wir Wirtschaftswachstum oder nicht?“ | |
Atze stöhnt, es ist neu, dass sein Freund solche Fragen stellt. Fanleben | |
und Wirtschaftsinteresse. Es scheint, als treffe an diesem Tag der alte | |
Steffen auf den neuen Steffen. Für den alten waren Fußball und Party | |
wichtig, der neue interessiert sich für Nachhaltigkeit und globale | |
Gerechtigkeit. | |
## Der alte und der neue Steffen | |
Was ihn so verändert hat, kann Steffen Geis auch nach einem Jahr noch nicht | |
richtig in Worte fassen. Erzählt er von seiner Zeit in Nicaragua, | |
balanciert er auf einem Drahtseil zwischen Lachen und Weinen. Dann runzelt | |
er nachdenklich die Stirn und fragt: „Soll ich eine Geschichte erzählen?“ | |
Wie jeden Mittwoch ging Steffen Geis mit einigen Straßenjungs Fußball | |
spielen. Es wird viel gelacht, dann passiert ein Unfall. Carlos, ein Junge, | |
der fast sein gesamtes Leben auf der Straße verbracht hat, erwischt statt | |
dem Ball Steffens Hand, die zu bluten beginnt. Im nächsten Moment | |
verschwindet Carlos wortlos und Steffen ärgert sich; der Junge hat sich | |
noch nicht einmal verabschiedet. Nach 15 Minuten taucht Carlos wieder auf | |
und gibt ihm Verbandszeug, das er von dem Geld für sein Abendessen gekauft | |
hat. Steffen Geis ist noch heute tief beeindruckt. „Ich habe gelernt, was | |
es heißt, sein letztes Hemd für Freunde herzugeben.“ | |
„Lernen ist Erfahrung plus Reflexion“, sagt Pablo Schickinger. Seit 2002 | |
hat der Psychologe mehr als 600 junge Menschen auf ihrem Weg in die Ferne | |
begleitet. Bei Schickinger landen die Geschichten des Auslandsjahres. Wenn | |
die Freiwilligen Gesprächsbedarf haben, leiht er ihnen sein Ohr. Jubelnde | |
Lebenslust und nagende Selbstzweifel wechseln sich ab beim | |
Orientierungsversuch in einer fremden Gesellschaft. | |
Die Jugendlichen lernen ihre Rolle als „wohlhabende Weiße“, erleben Gewalt | |
und materielle Armut und erkennen, dass es verschiedene Wahrheiten gibt. | |
„Wir denken alle, es gibt vier Himmelsrichtungen, aber es könnte auch zwölf | |
geben“, meint Schickinger und lächelt. Innerhalb einer Gesellschaft | |
verhalte sich der Einzelne wie ein Alkoholiker, der immer denselben | |
Gewohnheiten folgt. Der Entzug wirft Fragen auf – besonders bei der | |
Rückkehr. Schickinger bestellt sich noch ein Glas Wasser, dann fragt er: | |
„Wer sagt denn, dass man alte Menschen ins Altersheim geben muss? Wer sagt | |
denn, dass die Arbeit das Leben definiert?“ | |
## Vegetarisches Schnitzel | |
Es sind solche Fragen, die Steffen Geis nach seiner Rückkehr stellt. | |
Trotzdem beschließt er zunächst, wie früher in einem deutschen Autowerk zu | |
jobben. Zwei Monate lang prägen Nacht- und Sonntagsschichten seinen Alltag, | |
draußen erlebt Deutschland seinen wärmsten Sommer, in der Gießereihalle | |
herrschen rund um die Uhr vierzig Grad. Stundenlang der gleiche Handgriff; | |
nach der Arbeit ausruhen und am nächsten Tag wieder arbeiten. „Und das | |
einzig die Menschen Verbindende“, Steffen Geis’ Stimme klingt resigniert, | |
„ist Geld.“ Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Und zwar Geld, bei d… | |
es nicht in erster Linie um die Ernährung der Familie geht, sondern um | |
zusätzlichen Konsum.“ Noch heute hat er ein mulmiges Gefühl, wenn er durch | |
den Überflussdschungel deutscher Supermärkte läuft. | |
Steffen Geis verdreht die Augen, wenn er von seinen eigenen alten | |
Konsumgewohnheiten spricht. „Ich war ein Fleischvernichter, jeden Tag zwei | |
Leberkäsbrötchen.“ Nach der Rückkehr erklärt er seinen Eltern, dass er nun | |
Vegetarier ist und sich nicht vorstellen kann, jemals ganztags zu arbeiten. | |
Einige Diskussionen am Esstisch später gibt es sonntags nun manchmal | |
vegetarisches Schnitzel mit Kartoffelsalat für die ganze Familie. | |
Steffen Geis kann sich mit vielen alten Gewohnheiten nicht wieder | |
anfreunden. „Man kann in der S-Bahn sitzen und auf sein Smartphone starren | |
oder sein Gegenüber fragen, wie es ihm geht.“ Nicht alle sind so offen für | |
Steffens neue Ideen und Ansichten. Die Zahl seiner engsten Freunde aus | |
alten Zeiten ist von zehn auf drei geschrumpft. Pablo Schickinger | |
beobachtet das Phänomen bei vielen Freiwilligen: „Es ist so, als würdest du | |
im Ausland deine deutsche Haut ablegen, und wenn du zurückkommst, versuchst | |
du, sie dir überzustreifen, aber sie passt nicht mehr.“ | |
## In den Händen von Ehemaligenvereinen | |
Steffen Geis hat sich verändert. Der Alltag in Nicaragua hat Spuren | |
hinterlassen. In Masaya tragen die Menschen das Leben auf die Straße, die | |
Türen sind immer geöffnet. Mittags schaute gelegentlich die Nachbarin | |
vorbei und drehte die Musik auf, dann kamen alle in den Hof und tanzten. | |
„Diese unfassbare Freude und das Ja zum Leben“, sagt Steffen etwas | |
sentimental, er vermisst das. | |
Solche Erfahrungen sind prägend, ein Leben lang – das gilt auch für Pablo | |
Schickinger. Er schiebt den Teller weg und beginnt von Chile zu erzählen. | |
In diesem Moment bleibt ein Gast am Tisch stehen und mustert ihn. | |
Schickinger springt auf und umarmt den Mann, er ist Chilene und kennt | |
Schickinger vom Studium. Er fragt, wie es mit der Initiative läuft. | |
„Russland und Palästina haben wir bereits in die Hände von | |
Ehemaligenvereinen gegeben“, erzählt der Psychologe stolz. Diese betreuten | |
die Einsätze nun seit einigen Jahren nach eigenen Vorstellungen. | |
Auch Steffen Geis möchte sich weiter engagieren. Sein Weg führt ihn von | |
Stuttgart nach Berlin, aus dem Elternhaus in eine WG und aus der | |
Autoproduktion in ein Lehramtsstudium; Geschichte und Spanisch mit | |
Lateinamerikanistik. Im Rahmen eines Flüchtlingsprojekts möchte er Deutsch | |
unterrichten und eine Fußball-AG anbieten. „Wenn in mir eine Kerze | |
geschlummert hat, dann hat dieses Jahr sie angezündet.“ | |
2 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Fabian Grieger | |
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