| # taz.de -- Kolumne Behelfsetikett: Mein erster Moschee-Besuch | |
| > Lehren aus dem Berliner Ausland: Warum Muslime im Winter beim Beten keine | |
| > kalten Füße bekommen. | |
| Bild: Die Sehitlik-Moschee in Neukölln. | |
| Eben noch in Berlin, mit einem Schritt schon in der Türkei: „Sie befinden | |
| sich jetzt auf türkischen Boden“, begrüßt uns Ender Çetin mit einem Läch… | |
| auf den Lippen und einem schwarzen Tee in der Hand. Dabei will ich doch nur | |
| eine Moschee besuchen und nicht das Land verlassen. Zusammen mit 20 | |
| bildungshungrigen Menschen mache ich zum ersten Mal in meinem Leben | |
| Bildungsurlaub. Mitte September dreht sich eine Woche lang alles um „Unsere | |
| muslimischen Nachbarn“. Achtzehn Seminare, Vorträge (mit Diskussionen) und | |
| Exkursionen stehen auf dem Plan. Deshalb sind wir in der Sehitlik-Moschee | |
| in Neukölln zu Gast. | |
| Das mit dem türkischen Boden war kein Scherz, lernen wir von Çetin, dem | |
| Vorstandsvorsitzenden des Trägervereins der Sehitlik-Moschee. Denn hier am | |
| Columbiadamm, direkt vor der Moschee, gibt es seit 1866 einen muslimischen | |
| historischen Friedhof. 1921 wurde das Grundstück vom türkischen | |
| Verteidigungsministerium gekauft. Im ersten Weltkrieg wurden türkische | |
| Soldaten in Berlin behandelt, einige starben aber und wurden hier | |
| bestattet. Der kleine Friedhof bekam seinen Namen: Märtyrerfriedhof; auf | |
| Türkisch: Şehitlik. Die Moschee wurde im Stil der osmanischen Architektur | |
| des 16. und 17. Jahrhunderts von 1999 bis 2005 auf dem Gelände eines | |
| Vorgängerbaus errichtet. | |
| Die Schuhe ausziehen vor dem Eintritt eines muslimisches Gotteshauses, das | |
| kennt man. Drinnen geht das Staunen und Fragen los. Im Leben gibt es ja | |
| viele erste Male. Dies ist auch eins: Ich bin – wie viele aus der Gruppe – | |
| das erste Mal in einer Moschee. Mich überrascht einerseits die große Leere | |
| im riesigen Rund, die bis zu 1.500 Betende aufnehmen kann. Andererseits | |
| fasziniert mich die äußerst üppige Innengestaltung, die ganz ohne Bilder | |
| auskommt: überall Marmor und Keramik, viel Holz und Gipsapplikationen, und | |
| immer wieder wunderschöne Kalligrafie, die Suren aus dem Koran oder einen | |
| der insgesamt 99 Namen Allahs darstellen: Der Barmherzige. Der Versorger. | |
| Der Allwissende. Der Gerechte. Der Liebevolle … | |
| Doch dann bin ich irritiert: Zum Nachmittagsgebet trudeln nach und nach | |
| gerade mal zehn Männer ein. So wenige in so einem großen Haus? „Sie müssen | |
| mal freitags kommen“, sagt Ender Çetin, „da ist es voll hier.“ Das hab i… | |
| mir jetzt vorgenommen, zumal freitags die Predigt auch auf Deutsch gelesen | |
| wird. Vorbeten kann übrigens jeder – also ein Imam sein; das wusste ich | |
| bislang nicht. Und unter dem schier endlos erscheinenden Teppich (in der | |
| Türkei gewebt) steckt eine Fußbodenheizung. Ich hatte mich gefragt, welches | |
| Geheimrezept die Muslime gegen kalte Füße im Winter kennen. Wieder was | |
| gelernt. | |
| Ich habe auch gelernt, dass in den meisten Moscheen Besucher willkommen | |
| sind, nicht nur am 3. Oktober, dem „Tag der offenen Moschee“. Deshalb nehme | |
| ich Moscheen ab sofort ins Programm meiner Berlin-Besucher auf. In den | |
| nächsten Wochen kommen gleich drei Mal Freunde zu Besuch. Von denen war | |
| auch noch keiner in einer Moschee. Wird Zeit. | |
| Aber was soll die digitale Tafel mit den vielen Uhrzeiten an der Wand? „Das | |
| sind die Gebetszeiten“, klärt Ender Çetin auf. Denn der gläubige Muslim | |
| betet fünfmal am Tag – und da sind die Daten wie Sonnenauf- und -untergang | |
| wichtig. „Aber was soll die 20 unter all den Uhrzeiten bedeuten?“, fragt | |
| eine Teilnehmerin. Vielleicht etwas Geheimnisvolles? Aber nein, man muss | |
| weder Türkisch noch Arabisch können, um die Ziffern zu deuten: „Das ist die | |
| Außentemperatur!“, sagt Ender Çetin. | |
| 27 Sep 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Hergeth | |
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