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# taz.de -- Theaterfestival in Osnabrück: Apokalypse als Chance
> Das Osnabrücker Theaterfestival „Spieltriebe“ setzt sich am kommenden
> Wochenende mit den Möglichkeiten auseinander, das Unmögliche zu begehren.
Bild: Sascha Hargesheimers Stück: „Archiv der Erschöpfung“
HAMBURG taz | „Den lieb ich, der Unmögliches begehrt.“ Mit aufklärerischer
Weitsicht ruft dies die Seherin Manto in Goethes „Faust II“ aus, will die
Möglichkeit des Unmöglichen gegen eindimensionales Denken in Stellung
bringen. Wie auch Poeten, Philosophen, Religionen wirklich sein lassen
wollen, was in der Tatsachenwelt unmöglich ist. Wie auch das Theater
Osnabrück, das Denk- und reale Räume öffnet – und mit den so geweckten
Spieltrieben zum sechsten Mal ein Saisoneröffnungsspektakel auf die Beine
stellt. [1][Motto: „Das Unmögliche geschieht“]. Die Biennale ist
Theaterformen-Festival, Präsentationsformat zeitgenössischer Dramatik, Ort
der Nachwuchsförderung, Stadteroberungsattacke und PR-Coup nach der
Sommerpause.
„Fragil erscheint uns die Welt, ist vielerorts bestimmt durch Kriege,
Terror, extreme Armut und Flucht, andernorts durch den Zustrom der
Geflüchteten als Auslöser für Ängste vor dem eigenen Statusverlust“, wie
die Dramaturgin der Festivalleitung, Maria Schneider, den Ausgangspunkt der
Programmplanung formuliert. „Hybris-Europäer pflegen heutzutage eine
Rhetorik des Bewahren-Wollens, meinen sich verteidigen zu müssen gegen das
ihnen Fremde.“
## Lust am utopischen
Mit neuen Sprech- und Musiktheaterwerken sollen nun mögliche Alternativen
vorstellbar werden. „Wir wollen“, so Schneider, „der Umbruchssituation und
der eigenen Ratlosigkeit mit der Lust am utopischen Denken begegnen.“ 13
Produktionen entstehen, davon elf Erst- und Uraufführungen. Die 1.800
Festivaltickets werden wohl ausverkauft sein. 150.000 Euro reichen als
Festival-Etat, weil vornehmlich junge Regisseure günstig aus dem Vakuum
zwischen Studium und Karrierestart heraus engagiert werden. Zudem
übernehmen 13 studentische Kostümbildner und Szenografen der Hochschule
Hannover die Ausstattung der Inszenierungen. Die Mannheimer
Komponistenklasse Sidney Corbetts steuert sieben Kurzopern bei.
„Wir setzen stark auf Performance-Spielarten“, verrät Schneider, „dafür
gilt: Wir bauen nicht Räume für Stücke, sondern gehen mit Stücken auf
bestehende Räume ein.“ Beispielsweise einen denkmalgeschützten
Hafenspeicher, in dem die Obere Heeresleitung der Wehrmacht einst Getreide
für die Soldatenernährung bunkerte, sowie eine ehemalige Munitionsfabrik am
Limberg, die von englischen Soldaten bis 2009 als Kaserne genutzt wurde.
Jetzt bringt das Theater mit Endspielen wieder Leben hinein.
„Nicht nur dort möchten wir als Metapher für unsere Zeit das Genre
Apokalypse entdecken, in dem ja immer eine politisch bedingte Situation
beschrieben wird, die dazu führt, die Welt in Gut und Böse einzuteilen“,
sagt Schneider. „Was einen Endkampf heraufbeschwört, dem Sieger wird ein
1000-jähriges Reich in Wohlstand versprochen.“
## Leben ist wertvoller als der Tod
Solch Begehren des Unmöglichen geschieht auch in der Kunsthalle, wo
Jugendclubs des Theaters die biblische Johannesoffenbarung erkunden und
fragen, was nach dem Untergang der übertechnisierten Welt wohl kommen mag.
Mit „Extrem laut und unglaublich nah“ nach Jonathan Safran Foer wird in der
zum Verkauf stehenden Melanchtonkirche von einem Jungen erzählt, der durch
die Terroranschläge vom 11. September 2001 den Vater verliert, seine
Großmutter kennenlernt, die von ihren Erfahrungen der Luftangriffe im
Zweiten Weltkrieg auf Dresden erzählt. Daraufhin erkennen beide, dass die
Gefährlichkeit des Lebens wertvoller als der Tod ist.
Eine Bewegungskünstlerische Aufbereitung findet die Apokalypse im Herzen
der Stadt, dem Theater am Domhof, mit „Paradies fluten“ von Thomas Köck,
dem Gewinner des Osnabrücker Dramatikerpreises. Aus einer
postapokalyptischen Landschaft ergieße sich in diesem Auftragswerk eine
Sprachpartitur, erklärt Schneider, „die eine Materialflut über die Bühne
ergießt, welthistorische Erinnerungen vom Anfang bis zum Kollaps aller
Dinge“. Choreograf Mauro de Candia versuche dabei über das Sagbare
hinauszugehen, Köcks Sprache in Körperbilder zu verwandeln. Vier
Schauspieler und zehn Tänzer arbeiten daran.
Wo einstmals Stoffe für Zelte gefertigt wurden, in den leer stehenden
Werkhallen von Planen Neumann, inszeniert derweil Anis Hamdoun sein Stück
über seine Flucht vor dem Assad-Regime. Vergeblich suchte er den Arabischen
Frühling in Ägypten, floh weiter und kam irgendwie nach Osnabrück. Nur noch
bis zum Ende des Jahres besitzt der 30-jährige syrische Regisseur eine
Aufenthaltsgenehmigung. Sein Stück „The trip“ aber soll länger im
Osnabrücker Theaterspielplan zu finden sein.
## Kapitalismus scheint weitergezogen
Auch im kleinen Osnabrück finden sich dafür immer noch besondere Spielorte.
„Alice Wunderland“ etwa wird als Musical im Bällebad, an Kraxelwänden, auf
Hüpfburgen, Rutschbahnen und Bobbycar-Rennstrecken eines Indoor-Spieleparks
geprobt. Und in der bedeutungsvoll raunenden Brache eines seit fünf Jahren
verlassenen Kaufhauses startet Pascal Wieandts „Dschihad-Express“. „Der
Kapitalismus scheint weitergezogen, hinterlässt die Ruine eines
Textildiscounters, die vom Untergang der Konsumwelt erzählt“, erklärt
Schneider. In diesem Ambiente kritisiere die Lecture Performance aktuelle
Zustände, die zum Unmöglichen führten: dass Jugendliche eine unmenschliche
Gemeinschaft wie den IS dem Leben in Deutschland vorziehen.
Und in den Räumen einer ehemaligen Fleischkonservenfabrik soll schließlich
ein richtig volles Pfund Unmöglichkeit als Satyrspiel zum Ereignis werden:
„Es wird Wunderheilungen geben“, verspricht Schneider. Angedacht ist, die
FDP, Pegida-Anhänger und Alzheimer zu heilen, das Leben vom Tod zu befreien
und Dodos wieder auferstehen zu lassen: „Den lieb ich, der Unmögliches
begehrt.“
Fr, 11.9. bis So, 13.9., Theater am Domhof. Infos und Programm gibt es
[2][hier.]
4 Sep 2015
## LINKS
[1] http://www.spieltriebe-osnabrueck.de/
[2] http://www.spieltriebe-osnabrueck.de
## AUTOREN
Jens Fischer
## TAGS
Osnabrück
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Theater Osnabrück
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