# taz.de -- Karl Lauterbach über Krebsmedizin: „Es kommt zum Verteilungskamp… | |
> Die Behandlungskosten in Deutschland werden explodieren. Wir stehen vor | |
> der größten Krebswelle unserer Geschichte, sagt SPD-Politiker Karl | |
> Lauterbach. | |
Bild: „Unser wichtigstes Medikament gegen den Krebs ist, zu verhindern, dass … | |
taz: Herr Lauterbach, in diesem Sommer beschloss das Kabinett ein | |
Pflegegesetz, wonach Demente künftig die gleichen Leistungen erhalten wie | |
körperlich Beeinträchtigte. Die Pharmaindustrie machte Hoffnung auf einen | |
Durchbruch bei der Demenztherapie. Nun sagen Sie: Vergesst Alzheimer, unser | |
Problem ist der Krebs? | |
Karl Lauterbach: Tatsächlich sind der Krebs und die Demenzerkrankungen die | |
wesentlichen Herausforderungen unserer Zeit. Aber die Wahrscheinlichkeit, | |
an Krebs zu erkranken, ist sehr viel höher, als jemals dement zu werden. | |
Beim Krebs haben wir derzeit pro Jahr 500.000 Neuerkrankungen allein in | |
Deutschland. Diese Zahl wird massiv steigen. Wir müssen davon ausgehen, | |
dass jeder Zweite der heute 40- bis 60-Jährigen im Laufe seines Lebens an | |
Krebs erkranken wird. Wir stehen vor der größten Krebswelle unserer | |
Geschichte. | |
Das klingt dramatisch, liegt aber auch daran, dass Menschen | |
erfreulicherweise viel älter werden als vor 50 Jahren? | |
Richtig: Nur wer den Herzinfarkt überlebt, kann den Krebs noch bekommen. | |
Richtig ist aber auch: 60 bis 70 Prozent aller Krebserkrankungen sind | |
selbst bei optimaler Vorbeugung nicht zu verhindern. Viele dieser | |
Erkrankungen treten schon im mittleren Lebensalter auf. | |
In keinem anderen Medizinbereich wird mehr Geld für Forschung ausgegeben. | |
Was läuft schief? | |
Wir haben in den letzten 30 Jahren große Fortschritte gemacht beim | |
Verstehen von Krebs. Wir wissen relativ genau, wie seine Mechanismen | |
funktionieren. Leider ist der Gewinn an wirklich erfolgreichen Behandlungen | |
für fortgeschrittene, solide Tumoren weit hinter diesem Wissenszuwachs | |
geblieben. | |
Woran liegt das? | |
Krebs ist so flexibel wie intelligent. Er passt seine Genetik schnell der | |
Behandlung an und findet Wege, wieder aufzuflammen. Somit gleichen viele | |
Behandlungen, die beim Ersteinsatz sehr gut wirken, einem Strohfeuer: Nach | |
einiger Zeit kommt der Tumor zurück und kann nicht mehr aufgehalten werden. | |
Neue Therapien, etwa auf Basis von Antikörpern, Hormonen oder | |
Wachstumshemmern zerstören anders als die Chemotherapie nicht gute und | |
schlechte Zellen gleichermaßen, sondern hebeln gezielt die Mechanismen aus, | |
die das Wachstum der Krebszelle verursachen. Ein Durchbruch? | |
Medizinisch sind diese Medikamente faszinierend. Bedauerlicherweise halten | |
sie den Krebs sehr häufig nur für kurze Zeit auf, weil dann das betroffene | |
Ziel seine Bedeutung in dem Krebs verliert. Oder weil sich eine Resistenz | |
bildet, ähnlich wie bei Antibiotika. Das führt etwa beim Nierenkrebs dazu, | |
dass die Medikamente die Lebenserwartung nur um zwei bis drei Monate zu | |
steigern vermögen. Bei oft schlechterer Lebensqualität und immensen Kosten. | |
Wir stehen da vor einer politischen Aufgabe. | |
Diese Medizin wird nicht für alle finanzierbar sein? | |
Wir rechnen mit einer beispiellosen Kostenexplosion. Derzeit geben wir für | |
die Krebsbehandlungen rund 5 Milliarden Euro pro Jahr aus. Ich gehe davon | |
aus, dass es in zehn Jahren bis zu 45 Milliarden Euro jährlich sein werden | |
können, allein durch die Umstellung der vielen Patienten auf die neue | |
Behandlung und Kombinationstherapien, die dann im Regelfall 150.000 Euro | |
kosten werden. Es wird deswegen einen Verteilungskampf geben. Denn das Geld | |
wird an anderer Stelle fehlen, beispielsweise in der Pflege. | |
Wie dagegensteuern? | |
Erstens müssen die Medikamente nur dort eingesetzt werden, wo sie die | |
größte Wahrscheinlichkeit zu helfen haben. Klingt trivial, ist es aber | |
keineswegs. Aus Unwissen, wegen finanzieller Anreize oder weil die | |
Erkrankten darauf drängen, werden die Medikamente derzeit auch nicht | |
optimal geeigneten Patienten verschrieben, denen sie gar nicht nutzen. | |
Zweitens müssen wir Patienten ehrlicher aufklären und auch Alternativen | |
diskutieren. Neuere Studien zeigen, dass der Verzicht auf Therapie bei sehr | |
fortgeschrittenen Tumoren mehr Lebensqualität und auch ein längeres | |
Überleben bringt. Und drittens müssen die Medikamente billiger sein. Die | |
derzeitigen Preise sind überhöht und durch nichts gerechtfertigt. | |
Die SPD stellte von 2001 bis 2009 die Bundesgesundheitsministerin und ist | |
auch jetzt in der Regierung. Woran scheitert eine vernünftige Preispolitik? | |
Es gibt gesundheitspolitische Probleme, an denen die SPD nicht Schuld ist. | |
Das Phänomen, das ich beschreibe, ist neu. Viele der Krebsmedikamente in | |
diesen Preisklassen gibt es erst seit wenigen Monaten. | |
Wie wollen Sie die Pharmahersteller zwingen, die Preise zu senken, ohne | |
dass sich die Versorgung verschlechtert? | |
Die Studien, die zur Zulassung eines Medikaments führen, müssen künftig | |
höheren Ansprüchen genügen. Derzeit kommen viele Medikamente auf den Markt, | |
die bloß an sehr kleinen Patientengruppen getestet wurden. So erfahren wir | |
nie, bei welchen Gruppen sie nicht wirken. Mindestens ebenso wichtig ist, | |
dass wir Industrieländer uns auf eine gemeinsame europäische Preispolitik | |
einigen. Es kann nicht angehen, dass weiterhin jedes kleine Land mit einem | |
großen Pharmahersteller in einen Preiskampf geht. Da kann man nur | |
verlieren. Wenn die Industrieländer zusammenhalten und eine gemeinsame | |
Preis-Leistungs-Bewertung dieser Medikamente vornehmen, sinken die Preise | |
deutlich. | |
Die EU-Gesundheitsminister sind schon in der Debatte über das teure | |
Medikament Sovaldi zur Behandlung von Hepatitis C mit der Idee eines | |
europäischen Einheitspreises gescheitert. Wie soll es erst beim Krebs | |
werden? | |
Hepatitis C ist im Verhältnis zu Krebs eine seltene Erkrankung. Beim Krebs | |
ist die Lage nicht übersichtlich. Wir werden es uns angesichts des | |
finanziellen Drucks nicht leisten können, auf ein gemeinsames Vorgehen zu | |
verzichten. Schon jetzt sind die Franzosen nicht in der Lage, viele der | |
neuen Medikamente zu bezahlen. England hat einen Hilfsfonds, um die | |
Therapien am öffentlichen Gesundheitssystem vorbei zu finanzieren. In den | |
USA betteln mittellose Patienten direkt beim Pharmaunternehmen um | |
Kostenübernahme. Das geht nicht. | |
Möglich wäre, dass die gesetzlichen Krankenkassen Therapien beispielsweise | |
nur noch dann erstatten, wenn ihr Kosten-Nutzen-Verhältnis stimmt, bezogen | |
etwa auf den Preis und den Zugewinn an Lebensjahren. Großbritannien macht | |
das seit Jahren. | |
Es ist die schlechteste und unethischste aller Möglichkeiten zu sagen, mehr | |
als beispielsweise 50.000 Euro darf ein zusätzliches Lebensjahr nicht | |
kosten. Das werden wir in Deutschland garantiert niemals machen. | |
Aber ehrlicher und transparenter wäre es. Zumindest wüsste so jeder Patient | |
, woran er ist und wäre nicht abhängig von Ärzten, die die begrenzten | |
Mittel schon mal nach persönlicher Sympathie oder anderen intransparenten | |
Kriterien verteilen. | |
Es ist weder ehrlich noch klug. Es ist nicht ehrlich, weil es von dem | |
eigentlichen Problem ablenkt, dass das Medikament erst gar nicht 50.000, | |
100.000 oder 150.000 Euro kosten darf. Und es ist nicht klug, weil wir | |
überhaupt nicht über die Faktenlage verfügen, verlässlich feststellen zu | |
können, wie hoch der Gewinn an Lebensjahren für diese Medikamente ist. | |
Wird die Medizin Krebs eines Tages im Griff haben? | |
Wir sind auf gutem Weg. Ich bin optimistisch, dass wir, wenn wir die | |
Grundlagenforschung stärken, in 30 Jahren den Krebs kontrollieren können. | |
Das bedeutet, dass wir dann auch die fortgeschrittenen Tumoren daran | |
hindern können, weiterzuwachsen, in der Regel zumindest. | |
Für die meisten Babyboomer kommt das zu spät. | |
In der Zwischenzeit müssen wir nicht tatenlos zusehen. Der wichtigste | |
Punkt, an dem wir politisch umsteuern können, ist die Vorbeugemedizin beim | |
Rauchen. Rauchen verursacht so viele Krebserkrankungen, dass man sagen | |
kann, es ist der einzigartige Risikofaktor, der mit größter Verlässlichkeit | |
für sehr viele tödliche Krebserkrankungen verantwortlich ist. Somit ist | |
unser wichtigstes Medikament gegen den Krebs, zu verhindern, dass Menschen | |
rauchen. | |
Folgt daraus ein absolutes Verkaufsverbot für Zigaretten? | |
Jede Erhöhung der Tabaksteuer reduziert die Zahl der jungen Menschen, die | |
mit dem Rauchen anfangen wollen. Das ist wissenschaftlich erwiesen. | |
Insofern rate ich: Steuern rauf, und noch besserer Nichtraucherschutz. | |
24 Aug 2015 | |
## AUTOREN | |
Heike Haarhoff | |
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