# taz.de -- Fallschirmspringende Krebsbloggerin: Metastasen mit Zwinkersmiley | |
> Viola Helms fühlt sich nur an zwei Orten so richtig wohl: auf ihrem | |
> Krebsblog und in der Luft, wenn sie mit dem Fallschirm aus dem Flugzeug | |
> springt. | |
Bild: Bereit für den freien Fall: Viola Helms in der Cessna Caravan. | |
Wenn Viola Helms fällt, fällt sie tief. An diesem Julitag sollen es 4.000 | |
Meter werden. Sie will sich am frühen Abend mit ihrem Tandemlehrer aus | |
einer Cessna Caravan 675 stürzen, Partner und Gleitfallschirm fest an sich | |
geschnallt. Nach 60 Sekunden freiem Fall, ohne einen Gedanken im Kopf, wird | |
sich der Nylonschirm mit einem Ruck aufwerfen, sie abfangen und etwas | |
ruppig, aber sicher landen lassen. | |
Am 2. Oktober 2012 fiel sie auch, aber tiefer, in Metern nicht zu messen. | |
Der Spätsommer 2012 meint es sehr gut mit Deutschland. Viel Sonne, kaum | |
Regen, an manchen Tagen überschreitet das Thermometer die 40 Grad. Die | |
flirrende Luft ist voller Mücken. „Ich habe anfangs gedacht, ich habe | |
vielleicht einen Stich am Rücken, weil es gejuckt hat“, sagt sie. Aber auch | |
nach zwei Wochen hört das Jucken nicht auf. | |
Kann es sein, dass sie immer an der gleichen Stelle gestochen wird? Ein | |
Spiegel muss her, doch statt eines Stichs sieht sie diesen schwarzen Fleck. | |
## Der juckende Leberfleck | |
Sie tippt den Fleck und das Jucken bei Google ein. Die Suchmaschine spuckt | |
sofort Tausende Treffer aus – Hautkrebsforen, Krebsberatungen, | |
Gesundheitsportale. Sie geht zum Arzt, der Fleck wird entfernt, eine Woche | |
später kommt die Diagnose: Aus dem juckenden Leberfleck am Rücken wurde | |
schwarzer, metastasierender Hautkrebs. Sie fällt zum ersten Mal – ohne eine | |
Sicherung aus Nylongewebe, die ihren Aufprall hätte auffangen können. | |
Juli 2015, ein Flugplatz zwischen Kiel und Hamburg. Es ist viel zu kalt für | |
einen Sommertag, getrübter Himmel, Nieselregen, Windstärke 5. Schon am | |
Telefon gibt es eine Absage vom Flugplatz: Nein, heute werde wohl nicht | |
mehr gesprungen. Viola Helms ist trotzdem gekommen. | |
Auf diesem weiten grünen Feld, auf dem bei gutem Wetter die Maschinen in | |
die Höhe ziehen, sonst aber außer einer trostlosen Vereinsstube wenig ist, | |
da möchte sie sein. Helms ist 29, sieht aus wie 19, lächelt viel und trägt | |
sehr kurze Shorts. Sie hat eine Gänsehaut, möchte aber trotzdem draußen | |
sitzen. Morgen muss sie wieder ins Krankenhaus. | |
Zu Beginn ihrer Krankheit habe sie natürlich viel geweint, erzählt sie, | |
während feine Tropfen auf ihre kurzen Haare fallen. Heute weine sie kaum | |
noch, sie habe es wohl verlernt. Außerdem gehe es ihr viel besser, trotz | |
des wuchernden Krebses. Sie sei selbstbewusster geworden, lebensfroher. Das | |
liege am Fallschirmspringen. Und an ihrem Blog. | |
## 6.700 Follower | |
Seit einem Jahr [1][schreibt sie auf Facebook] über ihr Leben mit der | |
Krankheit. „Diagnose Krebs – und der Kampf um mein Leben“ heißt die Seit… | |
auf der sie mehrmals die Woche postet. Sie teilt viel mit ihren Lesern, vom | |
Schnappschuss eines McDonald’s-Menüs bis hin zu Fotos ihrer | |
Operationsnarben. Das Blog ist ein Erfolg. 6.700 Follower, Tendenz | |
steigend. | |
Wer sich durch das Internet wühlt, findet immer mehr solcher Krebsblogs. Es | |
ist eine Möglichkeit, aus der Isolation auszubrechen, die Kranken oft | |
droht. Das bekannteste dieser Blogs war das des Schriftstellers | |
[2][Wolfgang Herrndorf]. Er hatte sein Sterben einst unter dem Titel | |
„Arbeit und Struktur“ öffentlich gemacht und darin seine letzten | |
erfolgreichsten Autoren- und schwierigsten Lebensjahre protokolliert. | |
Viola Helms protokolliert nicht nur, sie interagiert auch. Binnen kurzer | |
Zeit antwortet sie auf Kommentare, schaltet sich in Diskussionen ein. „Das | |
Blog ist meine eigene Art der Psychotherapie.“ Wenn Viola Helms über ihre | |
vielen Rückschläge schreibt, enden ihre Sätze mit „… das schaffe ich auch | |
noch.“ Wenn sie bloggt, finden sich zwischen all den Nachrichten über | |
Melanome, Metastasen und OP-Termine zwinkernde, grinsende Smileys. | |
Sie hadere nicht mit ihrem Schicksal, sie ziehe aus allem etwas Positives. | |
„Und wenn ich heute nicht springen kann, dann wird das auch seinen Grund | |
haben.“ | |
Sie lächelt, als müsse sie vom Wahrheitsgehalt ihrer Worte überzeugen. Und | |
dann, irgendwann, stellt sie doch eine dieser elementaren Fragen: „Warum | |
erfinden die nicht endlich etwas, dass es aufhört?“ Wer bloggt, kennt auch | |
andere Blogger. Wer über Krebs bloggt, kommt zwangsläufig mit anderen | |
Krebsbloggern in Kontakt. | |
Viola Helms will immer positiv bleiben, aber wenn einer der anderen stirbt, | |
dann kommen die Zweifel in ihr hoch. „Dann denkst du: Scheiße, wie geht’s | |
jetzt mit dir weiter?“ Man vergleicht Diagnosen, Krankheitsbilder. Im Juni | |
starb eine der bekanntesten unter ihnen, Luise Ganschor, der | |
„Chemoelefant“. Auch bei ihr wurde 2012 ein aggressiver Krebs | |
diagnostiziert. Dann fängt es doch an, im Kopf zu rattern. „Geht es bei mir | |
dann auch so schnell?“ | |
## Der zweite Fall | |
Das zweite Mal fällt Viola, als sie merkt, dass sie allein ist. „Ich habe | |
mich sehr im Stich gelassen gefühlt, teilweise noch heute.“ Von einem | |
Großteil ihrer Familie, die überfordert war, von den meisten Freunden, die | |
zwar zu ihren Geburtstagen kamen, sich aber nach der Diagnose nicht mehr | |
mit ihr treffen wollten. | |
Vorwürfe, sie würde ihre Krankheit nutzen, um Mitleid zu erregen, kamen | |
noch vor ihrem Blog. „Als ich krank zu Hause lag, musste ich mir anhören, | |
ich solle mich aufraffen, andere Leute hätten auch Krebs.“ So wurde die | |
Community zu einer Art Ersatzfamilie, bei der sie Gehör findet, Mut | |
zugesprochen bekommt, sich selbst öffentlich vor Tausenden Mut zusprechen | |
kann. | |
Auf ihrem Blog werden aber auch nicht alle Facetten ihrer Krankheit | |
sichtbar. Dass das Morphium sie sehr aggressiv macht, dass sie in den | |
ersten Jahren nach der Diagnose psychisch schwer gezeichnet war, all das | |
bekommen ihre Follower nicht mit. Ihre Familie schon. Einen Morphium-Entzug | |
hat sie mittlerweile hinter sich. Aus der psychischen Krise hat sie sich | |
herausgeschrieben – und ist ihr davongesprungen. | |
Der Regen auf dem Flugfeld wird stärker, einer der Tandemlehrer entdeckt | |
sie und kommt auf sie zu. „Du hast aber auch kein Glück momentan.“ Das | |
Gespräch muss im Auto fortgesetzt werden. Viola Helms wird heute definitiv | |
nicht springen. Genauso wenig, wie sie gestern Wake-Boarden konnte, weil | |
das Boot schlapp machte. Was soll’s. | |
„Aller guten Dinge sind drei. Und aller schlechten eben auch“, sagt sie, | |
ihre Operation am nächsten Tag vor Augen. Sie lacht ein wenig hilflos. Sie | |
ist trotzdem nicht vergeblich gekommen. Viola Helms kennt hier alle | |
Mitarbeiter beim Vornamen und spricht über sie, als seien es alte Freunde. | |
Und jeder hier kennt Viola Helms, das Mädchen, das einen Kopf ohne Gedanken | |
so dringend braucht, ihre beste Kundin. | |
Jeder Sprung kostet mindestens 165 Euro, meist mehr. Viel Geld für eine | |
Frührentnerin. Die meisten Sprünge hat sie deshalb geschenkt bekommen – von | |
Freunden, von ihren Followern und auch von der Skydive-Schule. | |
## Das Internet stirbt nicht | |
Das familiäre Umfeld der Fallschirmschule, die vielen Likes in ihrem Blog, | |
das ganze Selbstvertrauen, das sie durch Bloggen und Springen bekommen hat, | |
es kann über trübere Tage hinwegtrösten. Es kann die Angst vor dem Tod | |
vorerst nehmen. „Aber eigentlich habe ich Angst davor, einfach vergessen zu | |
werden. Dann ist da ein Grabstein mit meinem Namen drauf und sonst nichts.“ | |
Ein Vermächtnis, auch das soll ihr Blog werden, denn das „Internet stirbt | |
ja nicht“. Eine Hoffnung, dass dadurch immer an sie gedacht wird – auch | |
wenn im Internet zwar wenig gelöscht, aber mit der Zeit viel im unendlichen | |
Datenstrom verloren geht. Die Unsterblichkeit der Altenpflegerin Viola | |
Helms aus Halstenbek bei Pinneberg bei Hamburg, kinderlos, Single. | |
Das dritte Mal fällt sie, als nach einem Jahr Ruhe Metastasen in der Lunge | |
auftauchen. Eigentlich wollte sie wieder anfangen zu arbeiten. Wieder mehr | |
Normalität in ihr Leben bringen. Aber es werde schon einen Sinn haben. | |
Einen Tag nach ihrem Nichtsprung muss sie ins Krankenhaus, zwei Tage später | |
wird sie an der Lunge operiert. | |
Am Tag nach der OP wird sie auf ihrem Blog schreiben, dass sie so starke | |
Schmerzen habe. Es sind 240 Zeichen. Kein einziger Smiley ist dabei. | |
9 Aug 2015 | |
## LINKS | |
[1] https://www.facebook.com/krebs2012?fref=ts | |
[2] http://www.wolfgang-herrndorf.de/ | |
## AUTOREN | |
Timo Nicolas | |
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