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# taz.de -- Nachruf auf Egon Bahr: Der Weltversteher
> Egon Bahr wollte Gräben überbrücken, um miteinander in Kontakt zu kommen.
> Die Realitäten des Politischen erkannte er dabei immer an.
Bild: 17. Dezember 1963: Egon Bahr (l.) mit dem damaligen Bürgermeister von Be…
Er hinterlässt keinen einzigen Schnipsel mit ideologischem Zierrat. Egon
Bahr hat offenkundig niemals ein politisches Anliegen auf mehr als die
jeweiligen Interessenlagen hin untersucht. Das hat es ihm, dem klügsten
Politpragmatiker der 60er bis 80er Jahre, ermöglicht, zum entscheidenden
Konstrukteur der politischen Architektur des Nachkriegs zu werden: Ohne ihn
und seine Verhandlungen mit dem Kreml und der DDR hätte es womöglich keinen
Gorbatschow, keine Perestroika, keinen Fall des Eisernen Vorhangs gegeben.
1963 formulierte Bahr – stets in engster Kooperation mit seinem Freund
Willy Brandt – in der Evangelischen Akademie Tutzing den ersten Umriss
eines Abschieds von der bis dahin gültigen Politik. „Wandel durch
Annäherung“ war die Kernchiffre seiner Rede. Man müsse mit der Sowjetunion,
überhaupt mit den Ländern des sogenannten Ostblocks sprechen, um
Erleichterungen für die Menschen zu schaffen.
Bahrs Stichworte waren für die konservativen Eliten der Bundesrepublik im
Grunde unverdaulich, ja, empörend. Hierzulande dominierten vom östlichen
Teil Europas Vorstellungen, die sich noch aus während der
nationalsozialistischen Zeit genährten Fantasien speisten. Der Russe – das
war der schreckliche Iwan. Und Russland das Land, vor dem sich die meisten
Deutschen fürchteten.
Nach der deutschen Teilung, spätestens mit dem Bau der Mauer, war der Kalte
Krieg eine realpolitische Tatsache. Das Projekt Brandts und Bahrs war eines
gegen tonangebende Medien der durch CDU/CSU repräsentierten Eliten: „Wandel
durch Annäherung“ hieß, so Bahr, die Gräben zu überbrücken, miteinander …
Kontakt zu kommen – in jeder Hinsicht. Ökonomisch, kulturell,
alltagstauglich durch Ermöglichung von Reisen und Besuchen.
Als Staatssekretär in der ersten Regierung Willy Brandts begann er seine
Diplomatie gegen das Misstrauen der DDR. Deren Staatschef Walter Ulbricht
charakterisierte das Bahr’sche Credo gewiss zutreffend als „Aggression auf
Filzpuschen“. Die Methode brachte Bahr der Berater des US-Außenministeriums
Henry Kissinger nahe: Führe Gespräche am besten im Geheimen. Versuche, die
eigenen Interessen im Blick zu behalten, aber die des Gegenübers zu wahren.
Organisiere dir, kurz gesagt, inoffizielle Kanäle in die Apparate der Kader
und Einflüsterer hinein.
Am Ende gab es die „Ostverträge“ – und damit die Voraussetzungen für al…
was die Erosion des realen Sozialismus beförderte. Der Grundlagenvertrag
mit der DDR 1972, die Helsinki-Akte der KSZE 1975, die ersten Verträge mit
Polen und der Tschechoslowakei und schließlich Perestroika und Aufstände
wider den Eisernen Vorhang, der schließlich Ende der achtziger Jahre
niedergerissen wurde.
## Fahnenjunker in der Wehrmacht
Bahr, am 18. März 1922 im thüringischen Treffert geboren, war während der
NS-Jahre kein Dissident. Vielmehr, so bekannte er in einem TV-Porträt 2012,
habe er als Fahnenjunker in der Wehrmacht gedient. Eifernd war er nicht;
vielmehr imponierte ihm, dass sein Vater sich nicht drängen ließ, sich von
seiner Frau zu trennen, weil deren Mutter jüdisch war.
Die Ehe seiner Eltern sei nicht so gut gewesen – aber, so Bahr, die Haltung
seines Vaters der eigenen Frau gegenüber habe für sich gesprochen. Der
gelernte Journalist (unter anderem beim Berliner Sender RIAS, heute
Deutschlandradio Kultur, und beim Tagesspiegel) trat 1956 in die SPD ein.
Das Motiv: am Aufbau eines demokratischen und sozialen Deutschland
mitzuwirken.
Nach Brandts Rücktritt 1974 im Gefolge der Spionageaffäre um Günter
Guillaume wurde Bahr noch vom neuen SPD-Kanzler Helmut Schmidt übernommen –
aber in der größten Hitze der politischen Küche hielt er sich nicht mehr
auf. Er war noch bis 1976 Entwicklungshilfeminister, von 1976 bis 1981
Bundesgeschäftsführer seiner Partei – die sich freilich heftig mit den
neuen Mitgliedern aus der 68er-Zeit verändert hatte. Die Jusos verstanden
„Wandel durch Annäherung“ als gemeinsame Sozialismuswerdung mit der SED –
das war Bahrs Sache nicht. Er wollte den Alltag in Europa durch Dialog
verändern, den Kalten Krieg lindern, nicht jedoch die Freiheit des Westens
preisgeben.
Egon Bahr war kein Linker, kein besonderer Freund Amerikas, sondern ein
demokratisch gesinnter Deutscher, der stets politisch das Gespräch suchte
und von der Politik der EU dem neuen Russland Wladimir Putins gegenüber
eher wenig hielt. Laute Drohungen, Aufhebens für die Schlagzeilen waren
seine Sache nicht. Man müsse, wie in den 50er Jahren schon, die Realitäten
des Politischen anerkennen. Und das war damals die Zweiteilung Europas (und
Deutschlands) und ist heute, faktisch, die Einverleibung der Krim ins
russische Territorium.
Zum Plan der USA, eine „Neutronenbombe“ zu produzieren, bemerkte er 1977
kühl, bei dieser handele es sich um eine „Perversion des Denkens“: weil sie
das Gleichgewicht in der gegenseitigen Vernichtungschance der Machtblöcke
aushebele und einen Krieg möglicher werden lasse. Und Krieg, das war die
biografisch entscheidende Erfahrung dieses Sozialdemokraten, musste um
jeden Preis verhindert werden.
Seine Stimme hatte, obwohl Genosse mit eigenem Büro bis zuletzt im
Willy-Brandt-Haus, aktuell bis in die Union hinein Gewicht. Im Alter von 93
Jahren ist der wichtigste demokratische Diplomat der Nachkriegszeit am
Donnerstag gestorben.
20 Aug 2015
## AUTOREN
Jan Feddersen
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Egon Bahr
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